Page - 401 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Die „Soldatenspiele“ der Kinder | 401
an den Folgen eines Trittes.800 In St.
Lamprecht hackte ein Kind bei der „Offensive“
einem anderen den Finger ab.801 Auf der Grazer Rennbahn spielte ein Mechani-
kerlehrling „mit einer Flobertpistole so unvorsichtig, daß ein Schuß losging und
das Geschoß“ einen Schüler traf.802 In der Nähe des Grazer Schlossbergs schossen
Jugendliche nach einem Streit einem anderen mit einem Gewehr in die Hüfte.803
Vorfälle, bei denen sich ein Schuss absichtlich oder unabsichtlich löste, schlugen
sich mehrmals in den Grazer Lokalteilen nieder. Des Öfteren hieß es daher: „Spiele
nicht mit [dem] Schießgewehr ...!“804 Und letztendlich ließe sich sogar von einer
neuen „Rubrik“ mit dem Titel „Wieder das Flobertgewehr!“805 sprechen. Für die
Presse stellten diese Unfälle, in die manchmal auch Dritte ungewollt verwickelt
wurden, eine „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“806 dar. Sobald jemand zu
Schaden kam, galten die „Spiele“ daher als Ausdruck einer „Verrohung“ bzw. einer
„Verwahrlosung“ der Kinder und Jugendlichen.807 Und dies wirkte sich aus Sicht
vieler journalistischer Politkommentatoren und Politkommentatorinnen schlecht
auf die eigenen Kriegsanstrengungen aus. In ihren Augen minderten die Unfälle
die Effizienz des Hinterlands in zweifacher Hinsicht. Erstens würden sie die „Hei-
matfront“ im lebensphilosophischen Sinne schwächen (jemand sei psychisch wie
physisch „verroht“). Und zweitens würden die Vorfälle das Hinterland im staats-
organisatorischen Sinne schwächen (man musste wegen einer „Dummheit“ die
Sicherheitswache oder das Rettungsauto rufen, die anderswo „wirklich“ gebraucht
wurden). Die Unfälle trugen aus meiner Sicht dazu bei, dass sich das Zusammenle-
ben in Graz verschlechterte. Die soziale Kohäsion war in den ersten Kriegsmonaten
bereits ohnehin durch tatsächliche oder eingeredete (aber dadurch nicht weniger
belastende) Faktoren brüchig geworden. Diese Verschlechterung nahm aber im
ersten Kriegsjahr nicht kontinuierlich zu. Nichtsdestoweniger steht außer Frage,
dass diejenigen Fälle, in denen Kinder und Jugendliche andere Personen, Tiere
oder sich selbst verletzten, als Bedrohung wahrgenommen wurden. Die Presse ap-
pellierte daher scharf an die Eltern sowie an die Lehrerinnen und Lehrer, dass
sie den Kindern die Waffen (Zwillen, Pistolen, Gewehren) wegnehmen sollten. Im
800 Beim „Kriegspielen“ tödlich verunglückt, in: Grazer Tagblatt, 7.9.1914 (Abendausgabe), 3.
801 Beim Kriegsspiel verwundet, in: Grazer Tagblatt, 15.11.1914 (2. Morgenausgabe), 3.
802 Das Spielen mit der Schußwaffe, in: Grazer Volksblatt, 19.10.1914 (12-Uhr-Ausgabe), 3.
803 Eine unaufgeklärte Revolvergeschichte, in: Grazer Tagblatt, 18.9.1914 (Abendausgabe), 2.
804 Spiele nicht mit Schießgewehr ...!, in: Grazer Tagblatt, 21.11.1914 (2. Morgenausgabe), 4.
805 Zwei Beispiele aus dem Tagblatt: Wieder das Flobertgewehr!, in: Grazer Tagblatt, 12.9.1914, 3;
Und wieder das Flobertgewehr, in: Grazer Tagblatt, 22.10.1914 (2. Morgenausgabe), 3.
806 Das Spielen mit Gummischleudern, in: Grazer Mittags-Zeitung, 17.11.1914, 2.
807 Vgl. z. B. Furchtbares Ende eines Spieles, in: Arbeiterwille, 29.3.1915 (Abendausgabe), 4.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453