Page - 441 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Einheitsprüfungen | 441
Es sei hinzugefügt, dass während der ersten Mobilisierungstage (!) die lokalen
Straßenbahnen den Soldaten durchaus freie Fahrt gewährten.59 Dass dem so war,
erfuhr die Grazer Vorortezeitung vermutlich aber erst nach dem Druck ihrer Aus-
gabe vom 2. August. Artikel wie diese zeigen aber, dass man zu Kriegsbeginn so
ziemlich jede Sparte des Alltagslebens auf ihre „Einheitstauglichkeit“ hin über-
prüfte. Im vorliegenden Fall bestanden die beiden Grazer Straßenbahnbetriebe
nicht die von der Grazer Vorortezeitung von sich aus initiierte Einheitsprüfung.
Und weil sie nicht die Prüfung bestanden hatten, wurden sie öffentlich diskre-
ditiert. Für den Fehler, der hier der Grazer Vorortezeitung unterlaufen war, ent-
schuldigte sie sich nicht (Es lässt sich prinzipiell sagen, dass die Grazer Zeitungen
sich nur sehr selten für ihre „Anprangerungsfehler“ entschuldigten). Was an der
obigen Einheitsprüfung noch auffällt, ist die Tatsache, dass die Grazer Vorortezei-
tung von der Straßenbahn etwas verklauselt forderte, was diese per Gesetz oder
Verordnung nicht leisten musste. Die redaktionellen Vorstellungen hinsichtlich
der Art und Weise, wie die Grazer „Heimatfront“ hochgezogen werden sollte, gin-
gen daher teilweise über die staatliche Regelobservanz hinaus. Als weiteres Beispiel
hierfür ist die Forderung des Arbeiterwillens, dass Vermieter und Vermieterinnen
die Miete von Wohnparteien, deren Männer eingerückt waren, reduzieren soll-
ten. Keine der anderen Grazer Tageszeitungen forderte dies so vehement wie das
sozialdemokratische Organ: „Der Hausbesitzer Pupacher in Zeltweg hat seinen
Mietparteien, deren Männer einberufen sind, den Mietzins um zwei Drittel herab-
gesetzt. Mögen sich andere Hausbesitzer dies als Muster nehmen, insbesondere die
Alpine Montangesellschaft und die ‚Austria‘ in Knittelfeld.“60 Die Erweiterung der
formellen „Staatspflichten“ (z. B. das Folgeleisten des Einberufungsbefehls) durch
privatwirtschaftliche und/oder zivilgesellschaftliche Wünsche unternahmen, wie
gesagt, alle Redaktionen. Die Presse trug durch ihr unablässiges Stigmatisieren
und Kriminalisieren verschiedener Alltagsmomente entschieden zu dieser Atmo-
sphäre des täglichen Prüfens bei. Seit September finden sich beispielsweise im ra-
dikal deutschnationalen Tagblatt mehrere Artikel und Leserbriefe, in denen man
59 Freie Fahrt der Einberufenen auf der Grazer Tramway, in: Arbeiterwille, 1.8.1914, 4: „Die Di-
rektion der Straßenbahn verlautbart, daß von heute an bis auf Widerruf die Mannschaften des
Heeres, der Landwehr und des Landsturmes vom Feldwebel abwärts in Uniform, desgleichen die
hier Eingerückten gleichen Ranges, wenn sie sich durch einen Militärpaß, Einberufungskarte
oder Beglaubigungsschreiben legitimieren können, auf allen Linien der Grazer Tramway ein-
schließlich der Mariatroster Bahn freie Fahrt genießen.“ Vgl. auch: Unentgeltliche Benützung der
Grazer Tramway und der Mariatroster Bahn, in: Grazer Volksblatt, 1.8.1914, 3.
60 Nachahmenswert, in: Arbeiterwille, 31.10.1914 (Abendausgabe), 4.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453