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Einheitsprüfungen | 443
angesehen“ (wie es mehrfach in den Quellen hieß).66 Außerdem wurde nicht je-
der Binnenkonflikt „beidseitig“ geführt (oder einvernehmlich gelöst). Aus diesen
Gründen sind die mit dem Prozess der Einheitsbildung korrelierenden Gewaltfor-
men nicht ausschließlich auf diesen selbst zurückzuführen. Die Suche nach den
Nährböden der damaligen Gewaltformen kann daher durch einen engen Blick auf
das Grazer Straßenleben zu Kriegsbeginn nicht hinreichend beantwortet werden.
Die Suche müsste breiter angelegt sein, um so mittel- und langfristige Prozesse, wie
Demokratisierung und Militarisierung, mit all ihren Facetten und Grenzen besser
in den Blickwinkel zu bekommen. Alles zusammen deutet aber darauf hin, dass
man sich in Graz – trotz fehlender Invasions- und Deportationsängste – massiv
bedroht fühlte (Die Infiltrationsängste sind nicht zu übersehen). Sieht man einmal
von den „nicht“ von Personen ausgehenden Bedrohungen und Ängsten (Arbeitslo-
sigkeit, Hunger, Überarbeitung, Einsamkeit, Arbeitsunfälle, Krankheiten, Alkohol,
Gerüchte) ab, ging man letzten Endes durch die Grazer Stadt, ohne dabei genau
zu wissen, wo der oder die Entgegenkommende „kriegspolitisch“ stand. Hier soll
nicht der Eindruck erweckt werden, das Grazer „Feldlager“ habe sich in eine gen-
rehaft verklärte „Wildweststadt“ ohne „Moral“ und Recht verwandelt. Ich will nur
darauf hinweisen, dass nicht jeder Mensch eine Uniform oder eine Sammelbüchse
trug und somit weitläufig als „patriotisch“ und daher als „einheitsfähig“ angesehen
wurde. Rein demoskopisch betrachtet, trugen die wenigsten Menschen eine Uni-
form oder eine Sammelbüchse. Und selbst über die, die eine Uniform oder eine
Sammelbüchse trugen, ließ sich nicht mit absoluter Gewissheit sagen, ob sie diese
rechtmäßig trugen. Zu viele uniformierte Männer „bettelten“ zu „Unrecht“ mithilfe
von erfundenen Kriegsgeschichten. Und zu oft wurden Spendengelder gestohlen.
Die Mehrheit der Menschen, ob nun in Zivil oder in Uniform, ging unaufhör-
lich der Frage nach, wer oder was zur „Einheit“ gehöre. Das ist ein Frage, die man
sich an der Front weitgehend nicht stellen musste, zumal sie auffällige und deswe-
gen auch „klare Zugehörigkeiten und Gegenpositionen“ kannte.67 An der „Heimat-
front“ gab es dagegen flächendeckend keine markant ins Auge stechenden Signale,
die ausweisen konnten, auf welcher Seite man stand.68 Vielmehr war sie von Beginn
an von einem „nervenaufreibenden“ und unerträglichen Gewirr aus sicheren und
gefährlichen Linien geprägt, die es erst einmal aufzutrennen galt (was nicht be-
deutet, dass man dies stets schaffte bzw. schaffen konnte). Aus der (retrospektiven)
66 Einige Arbeitslose wurden z. B. „scheel angesehen“, ferner auch die „Bosniaken“ und die „Nicht-
Grazer“.
67 Hüppauf (1991), 109.
68 Vgl. dazu auch: Hüppauf (1995), 325.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453