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Entscheidungshilfen | 445
Unabhängig davon, warum sie nun erfolgten, so gingen sie schnell vonstatten. An-
ders gestaltete sich die Lage derjenigen Grazer und Grazerinnen, die eine von der
Wache abgeführte Person begleiteten. Sie warteten oft solange, bis sie den Ausgang
des Verfahrens erfuhren. Man musste also warten, bis man endgültig wusste, ob
der auf der Wache sitzende Grazer ein „Serbenfreund“ war oder nicht. Warten und
Abwarten waren des Öfteren beschriebene Alltagssituationen. Viele Steirer und
Steirerinnen der Provinz mussten erfahren, dass ihre abonnierten Zeitungen auf-
grund des zusammengebrochenen Zivilverkehrs verspätet ankamen. Die Gewiss-
heit, ob jemand bzw. wer alles ein Feind war, konnte sich unter diesen Rahmenbe-
dingungen teilweise weniger schnell herausbilden (Es fehlte an einer wesentlichen
Informationsgrundlage). In vielen Fällen geriet so das routinierte Alltagshandeln
mehr als nur ins Wanken. Angesprochen wurden in dieser Arbeit etwaige Zweifel,
ob man einzurücken habe, der Andrang auf die Geldinstitute, die Hamsterkäufe,
die Arbeitslosigkeit, die Ausstattungsfrage, die Postschalter und vieles mehr.75 Hin-
ter diesen Alltagsmomenten verbargen sich Ängste und Sorgen, deren Lösungen
nicht sonderlich auf vorangegangene Kriegserfahrungen aufbauen konnten. Nach
Jay Winter verschwanden sie auch „nicht im Nebel der patriotischen Rhetorik von
1914.“76 Am Ende war das „Verdecken von Angst und Zweifel in einem rhetorischen
Kreuzfeuer [...] die natürliche Reaktion auf eine sehr unbequeme Tatsache.“77 Nie-
mand, der das Geld abhob oder hamsterte, hörte auf die Appelle der Presse. Das
legt eine Grenze publizistischer Beeinflussungskraft offen. Dieser Deutungsverlust
führte aber nicht dazu, dass man aufhörte die Presse zu lesen. Eher das Gegenteil
war der Fall, zumal sich durch die Einschränkung des Telefonnetzes und des Post-
verkehrs das Angebot technischer Nachrichtenquellen drastisch reduzierte. Das
gedruckte Papier in der Hand und das bedruckte Papier an der Wand blieben ne-
ben dem in der Öffentlichkeit oder zu Hause stattfindenden Gespräch (inkl. der
Spekulationen und Gerüchte) die (fast alternativlose) Hauptnachrichtenquelle.
Prinzipiell kultivierte man beim Gang durch die Grazer Straßen diverse Seh- und
Hörpraktiken, um in Erfahrung bringen zu können, wo Gefahr herrschte bezie-
hungsweise wer alles ein Feind war. Wenngleich jedwede Sinne zur Gestaltungspra-
xis des Alltags gehören, erscheint es mir nichtsdestotrotz ratsam, sich hier primär
auf das Sehen und Hören zu beschränken. Das Riechen, Schmecken und Fühlen
wird nicht thematisiert, wenngleich einige Forschungen beispielsweise den „Geruch“
75 Lokalisierungsfrage, Verbleibfrage, Nationsfragen, Mietzinsfrage, Arbeitslosenfrage, Unterstüt-
zungsfrage, Postfrage, Ernährungs- und Versorgungsfrage, Steuerfrage, Ausstattungsfrage, Alko-
holfrage, Sexualitäts- und Sanitätsfrage, Boykottfrage und die Hochzeitsfrage.
76 Winter (1991), 89.
77 Ebd.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453