Page - 449 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Entscheidungshilfen | 449
tisches“ oder ein sonst irgendwie fehlgeleitetes (z. B. „unsittliches“, „unerhörtes“,
„unsolidarisches“) Verhalten vor.86 Die Frage, ob sich diese begriffliche Zurückhal-
tung in puncto Burgfrieden im Jahr 1915 fortsetzte, lag außerhalb meines Gegen-
standbereichs.
Ein von mir eher zufällig gefundenes Beispiel deutet dennoch eher auf das Ge-
genteil hin. Es handelt sich hierbei um die erste große sozialdemokratische Ver-
sammlung seit den Wahlkampfveranstaltungen zum (letztendlich nicht gewähl-
ten) Grazer Gemeinderat 1914. Sie fand am 19.
April 1915 in den Juliensälen statt.
Dort stellte Josef Pongratz, einer der führenden Sozialdemokraten des Landes, die
rhetorische Frage: „[I]st das Burgfriede?“87 Er bezog sich dabei auf die Stadtpolitik
des Grazer Regierungskommissärs Anton Underrain von Meysing, die Pongratz
sichtlich nicht für gut befand. Solche Vorwürfe finden sich zwar vielfach in den
Zeitungen der ersten Kriegsmonate, nur griffen die Redaktionen nie auf den Be-
griff „Burgfrieden“ im Sinne eines „Burgfriedensbruchs“ zurück. Im ersten Kriegs-
jahr hieß es in solchen Fällen nur, dass jemand „unpatriotisch“, „unsittlich“, „uner-
hört“ oder „unsolidarisch“ gewesen sei.
Mit diesem Hinweis beende ich meine Darstellung über ausgewählte Grazer
Alltagsmomente (Gelegenheitsstrukturen) zu Kriegsbeginn 1914. Mein Interesse
galt vorwiegend dem Alltagsgeschehen auf den Grazer Straßen und Plätzen. Die
hier erarbeitete Sicht auf die Grazer „Heimat“ und ihren ambivalenten sowie zer-
klüfteten Einheitsprozess unterließ von Beginn an den Blick auf das Privatleben.
Nahezu alles, was ich mir angesehen habe, stammte von den Zeitungen, der Grazer
Wache, der Grazer Polizei, der Statthalterei, den Bezirkshauptmannschaften, dem
Militär oder den Kirchen. Ferner klammerte ich das Leben in den Fabriken oder
in anderen Produktionsstätten aus. Selbst die neuen Abläufe in den Druckereien
blieben von mir unberücksichtigt. Die Liste an Ausgespartem ließe sich problem-
los erweitern. Mir ging es aber eher darum, mit einem überschaubaren und homo-
86 Vgl. z. B. Brunndorf, in: Arbeiterwille, 7.11.1914, 5: „In der Zeit der größten Not, wo Arbeitslo-
sigkeit, verminderter Verdienst und eine enorme Teuerung aller Lebensmittel herrschen, fanden
die deutschnationalen Gemeindeausschüsse, die in Brunndorf die Mehrheit im Gemeindeaus-
schuß bilden, den Mut, eine Erhöhung der Gemeindeumlagen von 30 auf 45 Prozent zu be-
schließen und obendrein auch noch die Zinsheller, die unmoralischeste [sic] Gemeindesteuer,
die einem großen Teil der in der Gemeinde rechtlosen Bevölkerung aufgebürdet wird, von 4 auf
6 Heller zu erhöhen. Die sozialdemokratische Minderheit wehrte sich entschiedenst gegen ein
derartiges Ansinnen an die Bevölkerung in der gegenwärtigen Zeit, was aber die Herren von der
Majorität nicht“ abhielt, ihren Plan durchzusetzen.
87 Die Massenkundgebung der Grazer Arbeiterschaft, in: Arbeiterwille, 18.4.1915, 5. Weitere Bei-
spiele dieser Art sind: Die neueste Demagogie, in: Arbeiterwille, 20.4.1915, 5; Im „Burgfrieden“,
in: Arbeiterwille, 6.8.1915, 4.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453