Page - 452 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Image of the Page - 452 -
Text of the Page - 452 -
|
Schlussbetrachtung452
„Heimatfront“ gab. Vielmehr gab es viele und teilweise entgegengesetzte Ansich-
ten darüber, wie man sich im Hinterland zu verhalten habe. Dies verwehrte eine
einheitliche „Burgfriedensdefinition“ von Beginn an. Obendrein handelt es sich
bei dem Begriff „Burgfrieden“ um eine „Mangelware“.
Die Grazer Bevölkerung transformierte sich aufgrund vieler kleinerer und
größerer Burgfriedensschlüsse und -brüche zu keiner „Kriegsgemeinschaft“, die
frei von politischen, nationalen, konfessionellen oder geschlechterrollenbezoge-
nen Konflikten gewesen wäre. Vielmehr überformten und erodierten die Kriegs-
erschwernisse die zivilgesellschaftlichen Bindungen. Die durch den Krieg erst
entstandenen oder durch diesen verschärften Konfliktlinien innerhalb der Ge-
sellschaft beeinträchtigten unverkennbar, weil markant und nachhaltig, die gesell-
schaftliche Kohäsion. Ebenso wenig kam es in Graz zu einer vollständigen Auflö-
sung jener Grenzen, die zwischen den militärischen und den zivilen Lebens- und
Arbeitsbereichen verliefen. Allerdings ist der Transformationsprozess von einer
graduell militarisierten Friedensgesellschaft hin zu einer Gesellschaft im Krieg
nicht zu übersehen.
Zeitgleich mit den ersten Mobilisierungstagen kam es zu einem Andrang auf
die Geldinstitute, der vorwiegend von Frauen des kleinsparenden Milieus ausging
(23.
Juli bis zum 6.
August), zu Hamsterkäufen, die von Frauen aller Milieus unter-
nommen wurden (erste Kriegswoche), zum Kleingeldrummel, der gewissermaßen
zum finanzpolitischen Credo aller Grazerinnen und Grazer wurde, zu steigenden
Auslösungen am Grazer Versatzamt, zu einem erhöhten Aufsuchen der Sakral-
bauten, zu einem Andrang auf das Arbeitsvermittlungsamt und auf das Amtshaus
sowie zu den abendlichen Menschenansammlungen inklusive der (demoskopisch
betrachtet kleinen, aber medienwirksamen) „patriotischen“ Straßenumzüge und
Kundgebungen in der Grazer Innenstadt. Die „patriotischen“ Straßenumzüge fan-
den in der Woche von 25. bis einschließlich 31. Juli statt.
Als im Laufe des August 1914 solche Vorkommnisse seltener wurden, nahm die
auch für Graz geltende „Hyperaktivität des Kriegsbeginnes“ (Christian Geinitz)
und die damit einhergehende „nervenaufreibende“ Erregung („Zeiten der allge-
meinen Aufregung“) allmählich ab. Was blieb, war eine „Ambivalenz der Gemüts-
lagen“ (Christian Geinitz und Uta Hinz), in der Zustimmung zum und Ablehnung
des Kriegs parallel existierten. Ende August lassen sich bereits erste Ansätze eines
in der Kriegszeit abnehmenden Straßenrhythmus greifen. Die Stadt wurde mit
Verlauf des Kriegs leiser, langsamer, dunkler und agrarischer, d.
h. weniger mecha-
nisiert, weniger beleuchtet. Was stieg, war hingegen die Rationierung, Reglemen-
tierung und Normierung vieler Alltagsbereiche dieses vierjährigen „Volkskriegs“.
back to the
book Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße"
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453