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2. ANATOMIE EINES „LEBENDEN ORGANISMUS“
Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung
2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“
„Der Bauernhof ist ein lebender Organismus,“ so Herbert Backe, Staatssekre-
tär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, im Vorwort eines
Ratgebers zum Wirtschaftsaufbau bäuerlicher Betriebe : „Jede Veränderung eines
Betriebszweiges, jede Verbesserung der Fruchtfolge oder der Viehfütterung, jede
Beschleunigung der Ackerarbeit und jede Erleichterung der Hofarbeit hat die
weitreichendsten Wirkungen auf den Gesamtbetrieb.“ Daher komme es darauf
an, „alle Verbesserungsmaßnahmen von ihrer Wirkung auf den ganzen Hof aus“
zu betrachten, „alle Anstrengungen nur dem Zwecke der Leistungssteigerung des
ganzen [Hervorhebung im Original] Betriebes“ zu widmen.1 Den Hof als ganz-
heitlichen Organismus zu denken, war 1939, als diese Schrift erschien, keine Aus-
nahme ; vielmehr entsprach dies den Regeln des agronomischen Diskurses in den
deutschsprachigen Ländern in der Zwischenkriegszeit.2 Die Krise des zunehmend
mit vor- und nachgelagerten Märkten verflochtenen Agrarsektors im ausgehenden
19. Jahrhundert hatte die Grenzen der von Albrecht Daniel Thaer und Johann
Heinrich von Thünen maßgeblich geprägten Lehre vom Landwirtschaftsbetrieb
offenbart. Von statischen Vergleichen von Bodennutzungs- und Viehhaltungssys-
temen verlagerte sich die agronomische Aufmerksamkeit in der sich formierenden
„agrarischen“3 bzw. „agrarisch-industriellen“4 Wissensgesellschaft auf die innere
und äußere Dynamik landwirtschaftlicher Betriebssysteme.5
Paradoxerweise steigerte der agronomische Diskurs seine Komplexität mithilfe
einer vereinfachenden, aus der Biologie entlehnten Metapher : des Organismus.
Friedrich Aeroboe und Theodor Brinkmann begründeten Ende der 1910er, Anfang
der 1920er Jahre, in Anknüpfung an entsprechende Vorarbeiten anderer Agraröko-
nomen, die Organismustheorie des landwirtschaftlichen Betriebes, das bestim-
mende Modell der deutschsprachigen Agrarökonomie bis Mitte des 20. Jahrhun-
derts. Der Landwirtschaftsbetrieb erschien als „untrennbares, organisches Ganzes“,
das sich – wie ein menschlicher, tierischer oder pflanzlicher Organismus – unter
dem Einfluss „äußerer und innerer Lebensbedingungen“ entwickle.6 Als Triebkraft
des „Hoforganismus“ wirke die synergetische Koppelung von Ackerbau und Vieh-
zucht – genauer, von Futterbau und Wirtschaftsdüngereinsatz –, deren harmoni-
sches Zusammenspiel einen Zugewinn an Produktivität verspreche. Von außen her
bestimme die „volkswirtschaftliche Entwicklung“ das zeitliche Nacheinander der
Betriebssysteme ; im Inneren sei deren räumliches Nebeneinander von zwei gegen-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937