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4. „MENSCHENÖKONOMIE“ UNTER ZWANG
Manövrieren im Feld der Landarbeit
4.1 Die Steuerung der „Landflucht“1
„Menschenökonomie“ – der Begriff bezeichnet die weitreichende und tiefgreifende
Politisierung und Ökonomisierung des menschlichen Lebens, die mittlerweile zu
den Binsenweisheiten wissenschaftlicher Diagnosen der Moderne zählt. Der Sozio-
loge und Philosoph Rudolf Goldscheid definierte 1911 „Menschenökonomie“ als
„Lehre vom organischen Kapital, von jenem Teil des Besitzes also, den die Bevölke-
rung selbst darstellt“.2 Zweck der „Menschenökonomie“ sei der möglichst optimale
Einsatz des „organischen Kapitals“ einzelner Personen wie der gesamten Gesell-
schaft ; daher müsse die Produktion und Reproduktion menschlicher Arbeitskraft
einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterzogen werden.3 Der Begriff erfuhr in den
folgenden Jahrzehnten widersprüchliche Deutungen : Goldscheid und seine Anhän-
ger betonten den positiven Aspekt der „Menschenökonomie“, den Aufbau „organi-
schen Kapitals“ durch die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der
Werktätigen. Im Hauptstrang des wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurses in
Österreich und Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren trat hingegen zuneh-
mend der negative Aspekt, die „Auslese“ der als „minderwertig“ definierten Teile des
„Volkskörpers“, hervor.4 Soziologismus, die Vorstellung vom Primat der gesellschaft-
lichen Umwelt, und Biologismus, die Vorstellung vom Primat der genetischen Anla-
gen, markieren die beiden Pole des Bedeutungsspektrums der „Menschenökonomie“.
Der schillernde Begriff der „Menschenökonomie“ hatte auch im nationalso-
zialistischen Diskurs um den „Arbeitseinsatz“ seinen Platz. „Arbeitseinsatz“ be-
zeichnete die Abkehr von der als „liberalistisch“ gebrandmarkten Vorstellung eines
Arbeitsmarktes, auf dem Arbeitskraft wie eine Ware angeboten und nachgefragt
werde.5 Die vom Reichsarbeitsministerium herausgegebene Zeitschrift Soziales
Deutschland veröffentlichte im August 1944 eine zeitgemäße Definition von „Men-
schenökonomie“ :
„Menschenökonomie, in einem etwas veränderten Sinn, gehört heute zum täglichen
Brot aller wirtschaftlichen und sozialen Überlegungen. Es ist die durch den Krieg ver-
stärkte, aber lange vor dem Kriege angebahnte Erkenntnis von der Unentbehrlichkeit
und der Rarität selbst der einfacheren Arbeitskräfte.“6
Diese Erkenntnis, so der Verfasser des Artikels, leite nicht nur das Denken und
Handeln in der Arbeitseinsatzverwaltung, sondern auch der Arbeitenden selbst –
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937