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620 Ordnung und Chaos des Marktes
hörden jedoch nicht nur geduldet, sondern auch gerechtfertigt wurde, verweist auf
den zugleich systemgefährdenden und -sichernden Effekt dieser Herrschaftspraxis.
So dienten die dörflichen Ver- und Aushandlungen dazu, das durch Marktordnung
und Bewirtschaftung verschärfte Chaos – die für die „Erzeugungsschlacht“ be-
drohliche Knappheit an bäuerlichen Produktions- und Reproduktionsmitteln
– bis
zu einem gewissen Grad wieder in eine Ordnung zu bringen.152 Verstöße gegen die
Kriegswirtschaftsbestimmungen allein unter der Rubrik „Resistenz“ einzureihen,
verfehlt das Wechselspiel von inoffizieller, (agrar-)gesellschaftlicher und offizieller,
staatlicher Marktregulation. Folglich sollte das „Resistenz“-Modell entsprechend
der hier nur knapp skizzierten Gegenargumente erweitert153 oder durch ein we-
niger einengendes Modell, das etwa „Herrschaft als soziale Praxis“ in den Mittel-
punkt rückt, ersetzt werden.154
7.4 Die verlorene „Erzeugungsschlacht“ ?
Die ländliche Schattenwirtschaft kam im Wochenblatt und in den übrigen „gleich-
geschalteten“ Massenmedien kaum vor ; sie lag jenseits dessen, was die veröffent-
lichte Meinung in der Öffentlichkeit zur Debatte stellen wollte. Anders verhielt es
sich mit der „Erzeugungsschlacht“, deren vermeintliche oder tatsächliche Erfolge
in der Öffentlichkeit, etwa auf der Wiener Frühjahrsmesse 1940, in propagandis-
tischer Absicht stolz zur Schau gestellt wurden.155 In der Geschichtsschreibung
gehen die Ansichten über Erfolg oder Misserfolg der seit 1934 jährlich ausgerufe-
nen „Erzeugungsschlachten“ auseinander. Manche Historiker/-innen anerkennen
die Zuwächse des Selbstversorgungsgrades einiger Nahrungsmittel im Deutschen
Reich ;156 andere urteilen im Hinblick auf den „Zielkonflikt“ zwischen der ange-
strebten Produktionssteigerung und produktionshemmenden Regelungen zwie-
spältiger ;157 wieder andere stellen der nationalsozialistischen Produktionskam-
pagne angesichts der anhaltenden Importabhängigkeit ein durchwegs schlechtes
Zeugnis aus.158 Diese Meinungsvielfalt ergibt sich einerseits aus unterschiedlichen
Erfolgsmaßstäben
– Produktionsmenge, Land-, Arbeits- oder Kapitalproduktivität
oder Selbstversorgungsgrad –, andererseits aus unterschiedlichen Betrachtungszeit-
räumen. Der Berechnung der Boden-, Arbeits- und Kapitaleinsatz umfassenden
Gesamtfaktorproduktivität der deutschen Landwirtschaft zufolge fiel das jährli-
che Produktivitätswachstum zwischen NS-Machtergreifung und Kriegsbeginn
mit 2,14 Prozent deutlich niedriger aus als in der Weimarer Republik (3,67 bzw.
4,87 Prozent) und der frühen Bundesrepublik (4,33 Prozent) – ein Beleg für die
verlangsamte Agrarmodernisierung im „Dritten Reich“ : „Zusammenfassend ist
festzuhalten, dass der längerfristige Vergleich der landwirtschaftlichen Entwick-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937