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543Die
imaginierte „Volksgemeinschaft“
auf die Zeit nach dem Krieg verschoben. Beredter Ausdruck dieser Misere war das
Schweigen des Wochenblatts zur Wirtschaftsberatung nach der Informationskam-
pagne von 1940.196 Die Meister des „Landvolks“ scheiterten auf diesem Gebiet of-
fenbar an jenen Fehlsteuerungen, die unbeabsichtigt, doch unweigerlich aus ihren
Steuerungsversuchen folgten.
6.5 Die imaginierte „Volksgemeinschaft“197
Die Massenberatung über das Wochenblatt wie die Einzelberatung über die Wirt-
schaftsberatung verweisen auf die eigensinnige – teils akzeptierende, teils wider-
ständige – Aneignung von Expertenwissen durch die bäuerlichen Adressaten und
Adressatinnen. Um den Alltagsdiskurs, die alltäglichen Lesarten massenmedialer
Spezial- und Interdiskurse, näher zu erkunden, führen bäuerlicher Selbstzeugnisse
wie Schreibebücher, Autobiographien oder Briefe weiter.198 Am außergewöhnli-
chen Normalfall eines Zeitung lesenden und Briefe schreibenden Besitzers eines
Bergbauernhofes in Frankenfels, Landkreis St. Pölten, lässt sich die alltägliche An-
eignung massenmedial verbreiteter Informationen unter die Lupe nehmen. Über
den Bereich des Agrarwissens hinaus geht es dabei um Entwürfe individueller und
kollektiver Identitäten, vor allem den Stellenwert des Entwurfs einer nationalso-
zialistischen „Volksgemeinschaft“,199 in der ländlichen Gesellschaft. Diese Fallstu-
die betrachtet einerseits die Codierung, Übermittlung und Decodierung medialer
Sinngehalte im Hinblick auf Fremd- und Selbstpositionierungen.200 Andererseits
bettet sie die Sinngebungspraktiken des lesenden und schreibenden Akteurs in die
Strukturen der bergbäuerlichen Alltagswelt ein.
„An unseren Führer“ richtete der 48-jährige Leopold Leitner, Besitzer eines
30-Hektar-Bergbauernhofes in Frankenfels, sein fälschlicherweise mit 20. Februar
1941 datiertes Schreiben, in dem er um „Abhilfe der folgenden Missstände“ er-
sucht : In der Ostmark seien Trinkern die staatlichen Beihilfen gekürzt worden ;
das treffe vor allem deren Frauen und Kinder. Bestrafen solle man stattdessen die
Gastwirte, die an Betrunkene Alkohol ausschenkten. Während er die Arbeit von
Gemeinde- und Kreisverwaltung lobt, kritisiert er Gau- und Reichsbehörden : „In
den höheren Ämtern fehlts oft weit.“201 Nach Weiterleitung durch die Reichs-
kanzlei trat der Bearbeiter im Amt des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen
Polizei im Reichsministerium des Inneren, auf dessen Schreibtisch der Brief lan-
dete, den Akt an den Reichsstatthalter in Niederdonau „zur weiteren Veranlassung“
ab.202 Dort wiederum beauftragt man, offensichtlich etwas ratlos, den Landrat des
Kreises St. Pölten damit, die „Partei […] zu befragen, was sie mit der vorstehenden
Eingabe beabsichtigt hat“.203 Inzwischen hatte Leitner zwei weitere Briefe, diesmal
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937