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322 „Menschenökonomie“ unter Zwang
nur wenige aus Kleingewerbe oder Kleinhandel stammen“.239 Der Sonderfall der
südosteuropäischen Arbeitskräfte darf nicht bedenkenlos verallgemeinert werden ;
die freiwillige Meldung zum „Arbeitseinsatz“, die rechtliche Gleichstellung im
Betrieb und die Rückkehr nach Ablauf des Arbeitsvertrags, die für diese Katego-
rien von Arbeiter/-innen in besonders hohem Maß galten, förderten wohl deren
Motivation.240 Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass auch die osteuropäischen
Landarbeiter/-innen, die vielfach aus agrarischen Milieus stammten, im Vergleich
zu Deutschen im Durchschnitt höhere Leistungen erbrachten als die in Industrie
und Gewerbe eingesetzten Pol/-innen und „Ostarbeiter“. Diese Vermutung fin-
det, wie gezeigt wurde, in Gendarmerie- und Landratsberichten eine Bestätigung.
Dass „Ostarbeiter“ von Dienstgeber/-innen bevorzugt wurden, „sofern die Arbeit
körperlich schwer oder anhaltend monoton ist“,241 dürfte nicht allein auf nationa-
listischen und rassistischen Projektionen beruhen.
4.4 Gerechter Lohn oder Ausbeutung ?242
Die Entlohnung der Landarbeiter/-innen setzte sich in den 1930er und 1940er
Jahren aus Natural- und Geldanteilen zusammen. Sprechen die zeitgenössischen
Dokumente und die nachträglichen Erzählungen von „Lohn“, ist damit meist nur
der in Geld bemessene Anteil der Entlohnung gemeint ; darüber hinaus umfasste
die Entlohnung ein Bündel von nichtmonetären Gegenleistungen wie Ernährung,
Unterkunft, Bekleidung und Krankenversorgung. Der Gegenwert der Naturalien
umfasste Anfang des 20. Jahrhunderts meist mehr als die Hälfte der Gesamtent-
lohnung ; dieses Verhältnis verschob sich in den 1920er und 1930er Jahren schritt-
weise in Richtung Geldlohn.243 Im Hinblick auf Entlohnung, Besteuerung und
Sozialversicherung waren die Zivilarbeiter/-innen aus Nord-, West, Süd- und Süd-
osteuropa, abgesehen von einigen Abweichungen, den deutschen Arbeitskräften
im Prinzip gleichgestellt. Dagegen waren die osteuropäischen Zivilarbeiter/-innen,
die in der Land- und Forstwirtschaft zahlenmäßig bei weitem überwogen, erheb-
lichen Diskriminierungen unterworfen.244 Den Anlass zur Schaffung einer dis-
kriminierenden Lohnordnung bot der Einsatz polnischer Arbeitskräfte im Reich ;
„der Pole“ sollte „eindeutig gegenüber dem deutschen Volksgenossen abgesetzt“
werden.245 Dieses Maßnahmenbündel umfasste die Verminderung der Tariflöhne
für polnische Landarbeiter/-innen (Tabelle 4.8), die Beschränkung des Arbeits-
entgelts auf tatsächlich erbrachte Leistungen, den Verfall von Feiertagszuschlägen,
das Streichen von Sozialzulagen, die Beschränkung der Urlaubsansprüche, die
– im
staatspolizeilichen Interesse liegende
– Verkürzung der Kündigungsfristen und die
Aufhebung der Arbeitszeitbeschränkungen für Jugendliche. Die diskriminieren-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937