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1.1 Auto/Biographieforschung | 41
Ohne dafür noch die später von Maurice Halbwachs eingeführten und in der kul-
turwissenschaftlich orientierten Gedächtnisforschung weiterentwickelten Bezeich-
nungen des individuellen und kollektiven Gedächtnisses zu verwenden,25 nahm
Dilthey schon vieles von diesen Überlegungen vorweg. Erinnern und Vergessen
sind Vorgänge des Gedächtnisses, die sozial und zeitlich bestimmt und wandelbar
sind. Dies stellt eine Grundvoraussetzung dar, die in jeder Analyse autobiographi-
scher Texte zu berücksichtigen ist.
Fortgeführt wurden Diltheys Überlegungen von seinem Schüler Georg Misch.
Als Verfasser der dreibändigen „Geschichte der Autobiographie“ setzte Misch einen
wesentlichen Schritt in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
dem Genre. In Anlehnung an seinen Lehrer Dilthey widmete Misch sein Haupt-
augenmerk dem Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft, also dem in-
dividuellen Lebensverlauf in der ihn umgebenden Sozietät. Dazu unterzog er das
Genre der Autobiographie einer historischen Analyse, die von der Antike bis in das
19. Jahrhundert reichte. Misch verwies auf die antike Philosophie, die von einem
Gegensatz des Besonderen, das sich in der Geschichtsschreibung zeige, mit dem
Allgemeinen-Wesenhaften, das stärker in der Dichtkunst ausgedrückt sei, ausging:
„Er [Anm.: Aristoteles] definierte in seiner Poetik: ‚Der Dichter und der Historiker unter-
scheiden sich nicht dadurch, daß der eine in Versen, der andere in Prosa redet, sondern
der eine – das ist die Differenz – stellt dar, was geschehen ist, der andere, was hätte gesche-
hen können.‘ [...] ‚Daher ist die Dichtung philosophischer und bedeutungsvoller als die
Historie. Denn die Dichtung spricht ein Allgemeines, die Historie ein Besonderes aus.‘“26
Ganz im Gegensatz dazu hielt sich Misch vielmehr an „Goethes Wort von dem Dich-
ter, der ‚im Besonderen das Allgemeine schaut‘“.27 Seiner Ansicht nach liegt genau
darin das Potential der Autobiographie, dass sich im Besonderen des betrachteten
Lebens die allgemeinen Zusammenhänge der menschlichen Individuation in seiner
Umgebung darstellen lassen.
25 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985
[frz. EA: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925]; Maurice Halbwachs, Das kollektive Ge-
dächtnis, Frankfurt am Main 1991 [frz. EA: La mémoire collective, Paris 1939/1950]. Halbwachs’
Konzept des kollektiven Gedächtnisses findet sich weiterentwickelt in den Arbeiten des französi-
schen Historikers Pierre Nora (Les Lieux de mémoire, Paris 1984–1992) oder der Kulturwissen-
schafterInnen Jan und Aleida Assmann.
26 Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. Bd. 1: Das Altertum. 1. Hälfte, Frankfurt am Main
1949, 192.
27 Misch, Geschichte der Autobiographie, 193.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463