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1.1 Auto/Biographieforschung | 49
stehe am Beginn die Kinder- und Jugendgeschichte, es folge die Phase der „Lösung
von der Familie und der engeren Heimat […] und damit die Herausbildung der
Persönlichkeit“. Gekennzeichnet sei diese Phase von Studienjahren, Bildungsreisen,
Kontakten zur Welt. In der dritten Phase schließlich erreiche der Protagonist seinen
„eigentlichen Lebenshöhepunkt“ und trete damit gleichzeitig in seine schöpferische
Phase ein.50 Scheuer sieht in diesem Modell, das dem Konzept des klassischen Bil-
dungs- und Entwicklungsromans entspricht, ein konstituierendes Element für die
Herausbildung bürgerlicher Identität im 19.
Jahrhundert. Reulecke erweiterte bezie-
hungsweise korrigierte den Befund insofern, als sie darin nicht nur das konzeptio-
nelle Modell zur Herausbildung bürgerlicher, sondern männlicher Identität ortete:
Der in den biographischen Entwicklungsromanen beschriebene Prozess sei dem-
nach „ein Prozeß der Individuation als auch die Ent-Wicklung eines Subjekts aus
seiner Umwelt, die gleichzeitig die notwendige Matrix zur Selbst-Darstellung bildet.
Diese Matrix (Heimat, Herkunft, Familie u.a.), die vorwiegend weiblich konnotiert
ist, bildet damit den notwendigen Hintergrund, vor dem der ‚männliche‘ Held als
Held und als Mann entsteht.“51
Die sich bei Reulecke daraus ableitende Skepsis am Genre der Auto/Biographie
generell ist aber nur bedingt zu teilen. Reulecke kritisiert die im Zuge der Frau-
enbewegung erfolgte Bemühung, mit einer verstärkten Zuwendung zur Frauenbio-
graphie und dem damit verbundenen Ziel, die Geschichten „vergessener“ Frauen
wiederzuentdecken, dieses Ungleichgewicht auszugleichen. Weibliche Geschichte
würde auf diese Weise durch auf männliche Subjekte zugeschnittene Genres reprä-
sentiert.52 Wie sich aus gegenwärtiger Perspektive zeigt, war diese Reaktion aber nur
ein erster und vermutlich notwendiger Schritt. Längerfristig betrachtet brachten
gerade die Gender Studies und ihre theoretische Annahme des Geschlechts als Kon-
strukt wichtige Anstöße für die Biographik, indem sie den Weg für dekonstrukti-
vistische Zugänge zur Auto/Biographie generell (mit-)ebneten.53 Weiters muss der
auto/biographische Zugang als wesentlicher Impuls für die Geschichte „von unten“
der 1970er-Jahre und somit auch für die Frauengeschichtsbewegung betrachtet wer-
den und das bedeutet auch, dass für diesen Zeitraum ein nachhaltiger Wandel des
50 Helmut Scheuer, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung
vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, 92 f.
51 Reulecke, „Die Nase der Lady Hester“, 329.
52 Reulecke, „Die Nase der Lady Hester“, 335. Differenzierte Kritik zu Reuleckes Thesen findet sich
bei Esther Marian, Zum Zusammenhang von Biographie, Subjektivität und Geschlecht, in: Fetz
(Hg.), Biographie, 180 ff.
53 Vgl. dazu auch Anita Runge, Gender Studies, in: Klein (Hg.), Handbuch Biographie, 402–407.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463