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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung56
Kris und Kurz erarbeiteten ein umfassendes Set an Rollenbildern und -erwartun-
gen, die allesamt weit zurückreichen, nicht wenige davon finden sich bereits bei Va-
sari. Besonders interessant ist dabei die Feststellung, dass im Laufe der Jahrhunderte
zwar immer neue Rollenbilder hinzukamen, diese aber die alten nicht unbedingt
ablösten, sondern sich vielmehr dazugesellten, woraus ein immer größer werdendes
Repertoire an gleichzeitig wirksamen Bildern erwuchs:
„Das akademische Schulhaupt steht neben dem revolutionären Neuerer, der Künstler als
Universalgenie oder als Edelmann neben dem Einsamen und Verkannten, und diese Viel-
falt sozialer Bildung geht in das Künstlervolk des 19. Jahrhunderts ein, dem der gefeierte
Liebling von Fürst und Land ebenso zugehört wie der Bohemien mit dem Schlapphut,
der in Montmartre, Schwabing oder Greenwich Village, an den Toren der Gemeinschaft,
seiner Vorstellung vom Genie nachlebt.“73
Zur Konstituierung und Tradierung solcher Rollenbilder trägt die Künstlerbiogra-
phik mit ihren feststehenden Narrativen oder „biographischen Formeln“, wie es bei
Kris/Kurz heißt, zentral bei. Das bekannteste Narrativ ist jenes von der frühen und
oft nur durch Zufall entdeckten Begabung des späteren Künstlers, bei Vasari in der
biographischen Schilderung des Künstlers und einstigen Hirtenjungen Giotto gera-
dezu archetypisch begründet.74
Aufbauend auf ihre psychoanalytische Grunderfahrung maßen Kris/Kurz Kind-
heitsgeschichten in der Künstlerbiographik zentrale Bedeutung bei, wobei sie aber
zwei Anschauungen unterschieden: Während sie selbst, in der psychoanalytischen
Tradition, Ereignisse der Kindheit als prägend für die weitere Entwicklung betrach-
teten, wurden die typischen Kindheitsanekdoten in der Künstlerbiographik ledig-
lich als Vorzeichen einer künftigen Leistung gedeutet. Das heißt, wenn Vasari von
den frühen Hirtenerlebnissen eines Giotto schrieb und viele spätere Künstlerbiogra-
phen (und -autobiographen) ähnliche Geschichten hervorholten, stand dies zumeist
in der genannten Tradition des Suchens von Vorzeichen, gewissermaßen als Bestä-
tigung eines angeborenen Talents. Erst der psychoanalytische Blick stellte die Frage
nach der Entwicklung und der Kausalität. In ihrer Argumentation beriefen sich Kris
und Kurz daher auf Lehrvater Sigmund Freud:
„In unseren Tagen hat die erste dieser Anschauungen eine unerwartete Bestätigung durch
die Befunde neuerer Psychologie, namentlich durch die Sigmund Freuds, erfahren, der
73 Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, 27.
74 Vgl. Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, 132 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463