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1.3 Auto/Biographische Quellen | 73
Arno Dusini zu sprechen, ein zentraler „Topos der Rede über das Tagebuch“116 –
vom monologischen Charakter des Tagebuchs. Dem entgegenhaltend verweist die
neuere Forschung, und dies wurde erst durch den Blick auf die Praxis des Tage-
buchschreibens möglich, auf die Dialoghaftigkeit des Tagebuchschreibens. Sei es,
dass das Tagebuch konkret für eine bestimmte andere Person geschrieben wird, sei
es, dass es für eine spätere Öffentlichkeit geschrieben wird oder sei es nur, dass sich
das Tagebuchschreiben als „Dialog des Schreibers mit seinem Schreiben“117 erweist,
in jedem Fall zeigt sich der Prozess des Schreibens als eine Auseinandersetzung mit
einem wie auch immer gearteten Gegenüber. „Liebe Kitty“ lautet die Anrede im
wohl berühmtesten Tagebuch der Geschichte, jenem des Mädchens Anne Frank.
Es verdeutlicht die Selbstständigkeit des imaginierten Gegenübers, dass viele Tage-
buchschreiberInnen ihrem „Dialogpartner“ einen Namen geben, auch wenn es nur
mittels der Anrede „Liebes Tagebuch“ geschieht.118
Der Blick auf die Praxis des Tagebuchschreibens erweitert auch die Breite der zur
Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten durch die Quelle. Die Beachtung
des Prozesses des Tagebuchschreibens eröffnet beispielsweise die Erkenntnis, dass
TagebuchschreiberInnen meist auch TagebuchleserInnen sind, was wiederum ihr
Schreiben beeinflusst. Viele TagebuchautorInnen lesen regelmäßig ihre alten Ein-
träge, eine Praxis, die unmittelbare Auswirkung auf das neu Geschriebene hat.119
Die Praxis der „Relektüre“ der eigenen Tagebücher ist auch für den Künstler Aloys
Wach nachzuweisen. In einem unveröffentlichten Text des Künstlers, überschrieben
mit dem Titel „Das Tagebuch“, reflektierte er die Lektüre seiner Tagebuchblätter, die
er rückblickend als „sonderbares Lebensbuch“ betitelte:
„Da liegt vor mir ein Pack beschriebenes Papier. Beschwingt flüchtige Handschrift fügte
zierlich Satz um Satz. Ich blättere. Seite nach Seite ist mit den klaren Schriftzügen engge-
fügt, fast so, als ob diese vielen vielen Seiten auf einen Sitz hingeschrieben worden wären:
Ich lese, mit Interesse. Das immer größer wird. Es ist, als ob eine lebendig tönende Stimme
aus den Worten aufstiege und selbst spräche: so ungeheuer lebenswahr wird Satz und
Sinn. […] Eine einprägsame Darstellung des Inhalts dieses sonderbaren Lebensbuches
kann ich mit aller Mühe nicht vermitteln.“120
116 Dusini, Tagebuch, 68.
117 Dusini, Tagebuch, 69.
118 Vgl. dazu auch den Titel des Sammelbands Philippe Lejeune, „Liebes Tagebuch“. Zur Theorie und
Praxis des Journals. Hg. von Lutz Hagestedt, München 2014.
119 Vgl. dazu auch Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis.
120 Aloys Wach, Das Tagebuch, unveröff. Manuskript. Auch an anderen Stellen von Aloys Wachs Ta-
gebuch lässt sich die Praxis der beeinflussenden Relektüre nachweisen. Wie bei Seifert beschrieben
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463