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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung74
Während Wach ergriffen zu sein schien ob der „Wahrheit“ dessen, was er in sei-
nen früheren Tagebuchaufzeichnungen vorfand, machen andere Tagebuchschrei-
berInnen wiederum die für sie befremdliche Erfahrung, sich in ihren eigenen Ta-
gebüchern nicht wiederzuerkennen.121 Die durch Verschriftlichung, Verknappung,
Stilisierung und Auswahl stattfindende Verfremdung, der Zwang zur narrativen
Form führt zu einer Kluft zwischen dem realen Leben und seiner Wahrnehmung.
Der Blick auf die Praxis des Tagebuchschreibens führt auch zur Frage nach dessen
Funktion. So kann das Tagebuch das Bedürfnis eines Chronisten erfüllen, relevant
empfundene Tagesereignisse festzuhalten. Familienchroniken, Elterntagebücher etc.
tun dies ganz offensichtlich, um Familiengeschichte für spätere Generationen fest-
zuhalten. Der Chronist und die Chronistin können aber auch beabsichtigen, zu ei-
nem späteren Zeitpunkt als AutobiographInnen agieren zu wollen, die Tagebuchauf-
zeichnungen können hierzu als Stütze dienen – in diesem Fall wären sie eher Mittel
für einen späteren Zweck denn Selbstzweck. Unbedingt muss das Tagebuchschrei-
ben im 20. Jahrhundert auch als „Ventil für emotionale Spannungen“,122 und somit
als eine Form von Selbsttherapie verstanden werden. Wiederum dominiert hier der
Schreibakt vor dem, was er hinterlässt.
Philippe Lejeune formulierte die große Bandbreite dessen, wie das Tagebuch
den Menschen „in durchaus unterschiedlicher Weise dienen“ kann und reihte diese
Funktionen unter die Schlagworte: Erinnerungen bewahren, überdauern, sich anver-
trauen, sich selbst kennen, entscheiden, widerstehen, denken, schreiben.123 Erinnerung
bewahren, überdauern, sich anvertrauen und sich selbst kennen mögen dabei wenig
überraschen, verbergen sich doch dahinter die gängigsten dem Tagebuch zuge-
schriebenen Funktionen: die schon genannten Funktionen als Erinnerungsstütze,
als Möglichkeit zur Selbstbeschau und Selbsttherapie. Im Bereich des Überdauerns
finden wir Bezüge zum Konzept des autobiographical life, geht es hier doch auch
um eine Form posthumen Bewusstseins: „Tagebücher werden geführt, um die ver-
gangene Zeit festzuhalten, die sich hinter uns verflüchtigt, aber auch in der Angst
vor unserem eigenen Verschwinden.“124 Besonders interessant erscheinen die von
(vgl. ebd.) bestimmte auch bei Wach das Nachlesen des letzten aktuellen Eintrags häufig die Wei-
terführung des nächsten, vgl. z.B. den Eintrag: „22.2.1934. Ich habe mich gestern schlecht ausge-
drückt […]“. Aloys Wach, Tagebuchblätter seit 1933.
121 Vgl. Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, 39.
122 Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, 47.
123 Philippe Lejeune, Datierte Spuren in Serie. Tagebücher und ihre Autoren, in: Rüdiger Graf/Janosch
Steuwer (Hg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Ge-
schichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, 37–46, 42
ff.
124 Lejeune, Datierte Spuren in Serie, 43.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463