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1.3 Auto/Biographische Quellen | 75
Lejeune angeführten Bereiche Entscheiden und Widerstehen, stehen sie doch konträr
zur vorherrschenden Auffassung des Tagebuchs als passiven Empfänger bzw. Träger
von Gedanken und Erinnerungen. Lejeune verweist vielmehr auf den Faktor, dass in
der Niederschrift von Gedanken, Erinnerungen und bilanzierenden Resümees erst
Konzepte für künftiges Handeln entstehen, Vorhaben und Ziele definiert werden
können: „Die Selbstbefragung bezieht sich nicht nur auf das, was ist, sondern auf
das, was sein wird. […] Das Tagebuch ist nicht unbedingt passiver Natur. Es ist ein
Instrument des Handelns.“125 Und das Denken und Schreiben? Hier gingen Lejeunes
Überlegungen dahin, dass sich das Tagebuch als schöpferisches Instrument zeigt,
und dass der Sinn des Tagebuchschreibens oder seine Faszination ganz einfach auch
in der beim Menschen vorhandenen Lust am Schreiben zu finden ist, wobei – und
hier möchte ich Lejeunes Gedanken weiterführen und mit dem Konzept der Selbst-
Konstruktion in autobiographischen Quellen kombinieren – die Lust am Schreiben
dabei wohl auch eine des Sich-Selbst-Erschreibens ist, eine Lust an der Transfor-
mation eines Ich in ein Tagebuch-Ich, in eine literarisch gewordene Figur, die sich
immer wieder neu erfinden kann.
Ähnlich wie bei der Textsorte des Briefes erweisen sich auch beim Tagebuch
Künstlertagebücher als eigenes Subgenre, das speziell seit dem frühen 20. Jahrhun-
dert auch am Buchmarkt Attraktivität gewonnen hat. Die Konjunktur des Tagebuchs
zeigte sich generell an den zahlreichen Tagebuch-Publikationen, die wiederum Vor-
bildwirkung ausübten und weiteres Tagebuchschreiben forcierten. Das vermeintlich
„private“ Tagebuch wurde also nicht selten veröffentlicht, sei es am Buchmarkt oder
zumindest im halbprivaten Rahmen einer familiären oder freundschaftlichen Öf-
fentlichkeit. So dürfte beispielsweise auch der Schwager und enge Vertraute Alfred
Kubins, Oscar
A.
H. Schmitz, eine Veröffentlichung seiner Tagebücher schon früh in
Erwägung gezogen haben, pedantisch fertigte er Typoskripte alter Aufzeichnungen
an und sehnte sich danach, dass zumindest sein Schwager Einsicht in seine Tage-
buchaufzeichnungen nähme. So teilte er Kubin 1911 mit:
„Ich bin eben dabei […] meine durch 15 Jahre gehenden Tagebücher in das Dictaphon zu
lesen um ein sauberes übersichtliches Exemplar in Händen zu haben. Solche Rückblicke
sind sehr nützlich & orientierend. Ich wollte, Du würdest dann dieses Tagebuch einmal
lesen. Vielleicht, wenn ich im Winter zu Euch komme.“126
125 Lejeune, Datierte Spuren in Serie, 44.
126 Oscar A. H. Schmitz an AK, 15.10.1911, zit. nach: Oscar A. H. Schmitz, Ein Dandy auf Reisen.
Tagebücher. Bd. 2: 1907–1912. Hg. von Wolfgang Martynkewicz, Berlin 2007, 505.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463