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Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life | 89 wenn ich an diese romantische Jugendkrise zurückdenke. Zunächst blieb der Zug wegen eines Hochwassers nach einigen Fahrstunden stecken, und so kam ich erst nach zweitä- gigem Umwege sehr ernüchtert, aber nur um so fester entschlossen in tiefer Nacht in Zell am See an. Am Grabe meiner Mutter angelangt, betete ich auf alle Fälle zum lieben Gott, desgleichen bat ich im Geist meine Mutter, daß sie mir die nötige Festigkeit schicken und mich vor Feigheit bewahren möchte. Dann wartete ich noch bis zum nächsten Glocken- schlag, in der Hoffnung, daß sich doch noch von irgendwoher Hilfe nahen würde – aber nichts kam, und den Gedanken, rasch zu meinem Vater hinüberzugehen, wieder nach Klagenfurt zurückgeschickt zu werden und alle um Verzeihung zu bitten, wies ich als zu schmachvoll, als einfach unmöglich, weit von mir. Die Mündung an der rechten Schläfe, wo ich mir nach einem anatomischen Bild mit einer Nadel einen Ritz machte, um das Gehirn nicht zu verfehlen, drückte ich los. Doch die eingerostete alte Waffe versagte, und zum zweiten Abdrücken fehlte mir die seelische Kraft – es wurde mir jämmerlich übel. Nachdem ich in einem Gasthausbett ein paar Stunden gelegen, ging ich in mein elterliches Haus und wurde von meinem Vater – übrigens ohne weitere Vorwürfe – umgehend nach Klagenfurt zurückgesandt.“27 Kubins Selbstmordversuch wurde in Darstellungen über den Künstler lange Zeit seinem Narrativ folgend übernommen. Erst die jüngere Forschung ging mit einem quellenkritischen Zugang auf dieses Erlebnis zu.28 Zweifel an Kubins Version der Geschichte sind zulässig, wenngleich es weniger um die Frage geht, ob eine ernst- hafte Selbstmordabsicht bestand – eine Frage, die wohl schwer zu klären ist und möglicherweise auch Kubin selbst zum Zeitpunkt des Geschehens nicht klar war. Interessant ist aber in jedem Fall die Stilisierung des Vorfalls in der autobiographi- schen Darstellung, denn der Verweis auf die Selbstmordabsicht fügt sich exakt in den von Kubin favorisierten Künstler-Typus des existentiell verzweifelten und un- verstandenen Genies in der Tradition Friedrich Nietzsches oder Otto Weiningers.29 27 Kubin, Aus meinem Leben, 17  f. 28 Eine kritische Auseinandersetzung findet sich v.a. bei Andreas Geyer, Träumer auf Lebenszeit. Al- fred Kubin als Literat. Wien, Köln, Weimar 1995, 75  ff. Besonders interessant ist Geyers Verweis auf Oskar Panizzas Traktat „Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit“, das sich in der Kubin-Bibliothek befindet (Inv.-Nr. 5154) und in dem von Kubin handschriftlich folgende Stelle markiert wurde: „Der Selbstmörder weiß nicht, was nach dem Schuss kommen wird, oder, im Fall des Gelingens, nach Eintritt des Todes. Er will nur den gegenwärtigen Gedanken, den er nicht an- ders losbringen kann, zerstören, sein Ich davon befreien. Und meist gelingt dies sogar schon durch den Schuss, der nicht tötet“. Kubin notierte in seiner Ausgabe des Werkes dazu: „Wie in Zell in jener Nacht auf dem Grabe!!“ Vgl. Geyer, Träumer auf Lebenszeit, 75. 29 Andreas Geyer verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die „morbide Pose“ als Zugeständ- nis an den Zeitgeist der Dekadenz fungierte. Vgl. Geyer, Träumer auf Lebenszeit, 77. Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
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Zeitwesen Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Title
Zeitwesen
Subtitle
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Author
Birgit Kirchmayr
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2020
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-23310-7
Size
17.3 x 24.5 cm
Pages
468
Category
Kunst und Kultur

Table of contents

  1. Einleitung 11
  2. Fragestellung und Ausgangsthesen 11
  3. Theoretische Bezugsrahmen 14
  4. Quellen 17
  5. „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
  6. 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
    1. 1.1 Auto/Biographieforschung 33
      1. 1.1.1 Lebenslauf, Biographie, Autobiographie oder Auto/Biographie? 34
      2. 1.1.2 Auto/Biographie und Geschichtswissenschaft 39
      3. 1.1.3 Auto/Biographie und Geschlecht 47
    2. 1.2 Künstlerauto/biographie 51
      1. 1.2.1 Von Vasaris Viten bis „Inventing Leonardo“: Zur Geschichte der Künstlerbiographik 51
      2. 1.2.2 „Biographische Formeln“: Die „Legende vom Künstler“ 54
      3. 1.2.3 Geniekonzept und Autobiographical Life 59
    3. 1.3 Auto/Biographische Quellen 63
      1. 1.3.1 Autobiographie 65
      2. 1.3.2 Brief 66
      3. 1.3.3 Tagebuch 72
  7. 2 KünstlerInnen über sich 79
    1. 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
      1. 2.1.1 Der Künstler, sein Archivar und sein Nachlass 80
      2. 2.1.2 Die Autobiographie „Aus meinem Leben“ (1911–1952) 83
    2. 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
      1. 2.2.1 Der Künstler als Erzähler 105
      2. 2.2.2 Die Autobiographie „Mein Leben“ (1971) 109
    3. 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
      1. 2.3.1 Autobiographisches in Tagebüchern und Briefen 136
      2. 2.3.2 „Biographische Notizen“ (1929) 138
    4. 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
      1. 2.4.1 Erklärungen zu einem Negativbefund 150
      2. 2.4.2 Die „Klessheimer Sendboten“ (1927) 154
    5. 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
      1. 2.5.1 Versuch einer Verweigerung 164
      2. 2.5.2 Der „Lebensbericht“ (1968) 166
    6. 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
  8. 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
    1. 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
      1. 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
      2. 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
      3. 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
      4. 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
    2. 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
      1. 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
      2. 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
      3. 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
      4. 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
    3. 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
      1. 3.3.1 Alfred Kubin: Von der Ariosophie zum Buddhismus 277
      2. 3.3.2 Aloys Wach, die Kabbala und Jesus Christus als „Okkultist“ . . . . . . . 284 Exkurs: Die „Affäre Schappeller“ 291
    4. 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
  9. 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
    1. 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
    2. 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
      1. 4.2.1 Kubin, der Krieg und das Ende der „alten Ruhe“ 321
      2. 4.2.2 „Ich bin so froh, dass ich noch lebe“: Oskar Kokoschka und der Erste Weltkrieg 328
    3. 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
      1. 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
      2. 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
      3. 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
      4. 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
    4. 4.4 Nationalsozialismus 382
      1. 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
      2. 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
      3. 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
      4. 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
    5. 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
  10. Dank 426
  11. Abkürzungsverzeichnis 428
  12. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
  13. Quellen- und Literaturverzeichnis 431
  14. Archive und Sammlungen 431
  15. Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
  16. Literatur und gedruckte Quellen 432
  17. Personenregister 463
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