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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life | 89
wenn ich an diese romantische Jugendkrise zurückdenke. Zunächst blieb der Zug wegen
eines Hochwassers nach einigen Fahrstunden stecken, und so kam ich erst nach zweitä-
gigem Umwege sehr ernüchtert, aber nur um so fester entschlossen in tiefer Nacht in Zell
am See an. Am Grabe meiner Mutter angelangt, betete ich auf alle Fälle zum lieben Gott,
desgleichen bat ich im Geist meine Mutter, daß sie mir die nötige Festigkeit schicken und
mich vor Feigheit bewahren möchte. Dann wartete ich noch bis zum nächsten Glocken-
schlag, in der Hoffnung, daß sich doch noch von irgendwoher Hilfe nahen würde – aber
nichts kam, und den Gedanken, rasch zu meinem Vater hinüberzugehen, wieder nach
Klagenfurt zurückgeschickt zu werden und alle um Verzeihung zu bitten, wies ich als zu
schmachvoll, als einfach unmöglich, weit von mir. Die Mündung an der rechten Schläfe,
wo ich mir nach einem anatomischen Bild mit einer Nadel einen Ritz machte, um das
Gehirn nicht zu verfehlen, drückte ich los. Doch die eingerostete alte Waffe versagte, und
zum zweiten Abdrücken fehlte mir die seelische Kraft – es wurde mir jämmerlich übel.
Nachdem ich in einem Gasthausbett ein paar Stunden gelegen, ging ich in mein elterliches
Haus und wurde von meinem Vater – übrigens ohne weitere Vorwürfe – umgehend nach
Klagenfurt zurückgesandt.“27
Kubins Selbstmordversuch wurde in Darstellungen über den Künstler lange Zeit
seinem Narrativ folgend übernommen. Erst die jüngere Forschung ging mit einem
quellenkritischen Zugang auf dieses Erlebnis zu.28 Zweifel an Kubins Version der
Geschichte sind zulässig, wenngleich es weniger um die Frage geht, ob eine ernst-
hafte Selbstmordabsicht bestand – eine Frage, die wohl schwer zu klären ist und
möglicherweise auch Kubin selbst zum Zeitpunkt des Geschehens nicht klar war.
Interessant ist aber in jedem Fall die Stilisierung des Vorfalls in der autobiographi-
schen Darstellung, denn der Verweis auf die Selbstmordabsicht fügt sich exakt in
den von Kubin favorisierten Künstler-Typus des existentiell verzweifelten und un-
verstandenen Genies in der Tradition Friedrich Nietzsches oder Otto Weiningers.29
27 Kubin, Aus meinem Leben, 17 f.
28 Eine kritische Auseinandersetzung findet sich v.a. bei Andreas Geyer, Träumer auf Lebenszeit. Al-
fred Kubin als Literat. Wien, Köln, Weimar 1995, 75 ff. Besonders interessant ist Geyers Verweis
auf Oskar Panizzas Traktat „Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit“, das sich in der
Kubin-Bibliothek befindet (Inv.-Nr. 5154) und in dem von Kubin handschriftlich folgende Stelle
markiert wurde: „Der Selbstmörder weiß nicht, was nach dem Schuss kommen wird, oder, im Fall
des Gelingens, nach Eintritt des Todes. Er will nur den gegenwärtigen Gedanken, den er nicht an-
ders losbringen kann, zerstören, sein Ich davon befreien. Und meist gelingt dies sogar schon durch
den Schuss, der nicht tötet“. Kubin notierte in seiner Ausgabe des Werkes dazu: „Wie in Zell in jener
Nacht auf dem Grabe!!“ Vgl. Geyer, Träumer auf Lebenszeit, 75.
29 Andreas Geyer verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die „morbide Pose“ als Zugeständ-
nis an den Zeitgeist der Dekadenz fungierte. Vgl. Geyer, Träumer auf Lebenszeit, 77.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463