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3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse
Was bewegte die Menschen im frühen 20.
Jahrhundert? Was bewegte die Künstlerin-
nen und Künstler, was die fünf in dieser Studie näher untersuchten Künstlerpersön-
lichkeiten? Und was bewegten sie? Sie lebten in einer Zeit des raschen gesellschaftli-
chen Wandels und des Aufbruchs in vielen Bereichen. Sie lebten gleichzeitig in den
Resten einer Welt des 19. Jahrhunderts und einer neuen Welt der Moderne. Das
Neue ist immer herausfordernd, und um die Wende zum 20. Jahrhundert entstand
viel Neues – im Gebiet der Technologie ebenso wie im Verhältnis der Geschlech-
ter, am religiösen Angebotsmarkt und nicht zuletzt im Bereich politischer Ideolo-
gien. Wie aber lässt sich die Moderne in ihren verschiedenen Ausprägungsformen
überhaupt fassen? Peter Gay sieht bei aller Unterschiedlichkeit ihrer VertreterInnen
zwei Gemeinsamkeiten: den „Reiz der Häresie“ und den „Hang zur bedingungs-
losen Selbsterforschung“.1 Nicht alle der hier vertretenen „Zeitwesen“ würden sich
selbst als VertreterInnen der Moderne verstanden haben. Dies zeigt nicht zuletzt die
Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit, sowohl in der Kunst wie auch in der Gesell-
schaft. Der in dieser Studie verfolgte biographietheoretische Ansatz ermöglicht im
Fokus auf das Individuum die Darstellung dieser Ungleichzeitigkeit. Bei aller Ver-
schiedenheit aber bleibt, dass die jeweiligen ZeitgenossInnen eine Vielzahl an äuße-
ren Einflussfaktoren teilten und sich in einem System wirkmächtiger gesellschaft-
licher Diskurse bewegten. In diesem System von Diskursen, die im Foucault’schen
Sinn das „Sagbare“ erzeugten,2 waren die in diesem Buch auftretenden KünstlerIn-
nen als AkteurInnen eingebunden. Nicht von Diskursen, sondern von „Dispositi-
ven“ und „Codes“ spricht der Kulturhistoriker Hans Ulrich Gumbrecht, wenn er
die Welt des Jahres 1926 verständlich machen möchte: Automobil, Bars, Fahrstuhl,
Jazz und Völkerbund; Zentrum versus Peripherie, Schweigen versus Lärm, Männ-
lich versus Weiblich.3 Auch in anderen Studien zur Lebenswelt der Moderne finden
sich ähnliche gesellschaftspolitische Themen (Diskurse, Dispositive, Topoi) wie bei
Gumbrecht: die Prägung durch die neuen Technologien, der Wandel des Geschlech-
terverhältnisses, der Aufstieg der Großstadt, das Verhältnis von Stadt und Land und
nicht zuletzt spirituell-religiöse Fragestellungen. 4
1 Peter Gay, Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, Frankfurt am Main 2008, 24.
2 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1990, 67 f.
3 Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt am Main 2003.
4 Z.B. Geisthövel, Alexa/Knoch, Habbo (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und
20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, New York 2005; Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent.
Europa 1900–1914, München 2008.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463