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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus368
4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische
Zwischenkriegszeit
„Hier sehe ich Europa von außen und da sieht es ganz anders aus: das uralte, verarmte,
gebrechliche Europa, das mir manchmal wie ein Mensch vorkommt, dem die Wirklichkeit
zu schwer ist und der sich daher in Träume verkriecht.“ 187
Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler verließen Österreich in den 1920er- und
1930er-Jahren. Christoph Bertsch nennt Erika Giovanna Klien, Elisabeth Karlinsky,
My Ullmann, Friedrich Kiesler, Herbert Bayer, Raoul Hausmann, Georg Ehrlich,
Hans Böhler, Josef Floch, Franz Lerch, Gerhart Frankl, Wilhelm Thöny, Johannes
Troyer, Wolfgang Paalen, Max Oppenheimer und Oskar Kokoschka.188 Zweifellos
erhebt diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Waren es anfangs wirt-
schaftliche Motive oder der Wunsch nach kreativitätsfördernden „Wanderjahren“,
die KünstlerInnen Österreich verlassen ließen, kamen mit zunehmendem Einfluss
der nationalsozialistischen Politik politische Motive hinzu und nach dem „An-
schluss“ 1938 die erzwungene Emigration von KünstlerInnen, die nach Nürnberger
Rassegesetzen als jüdisch galten.
Erika Giovanna Klien verließ Österreich im Jahr 1929, weniger aus politischen
als vielmehr aus wirtschaftlichen und persönlichen Gründen. Dass sie aber nicht
mehr nach Österreich beziehungsweise Europa zurückkehrte, dürfte nicht unwe-
sentlich der weiteren politischen Entwicklung geschuldet gewesen sein. Aus der Di-
stanz verändern sich der Blick und auch die Wahrnehmung politischer Ereignisse
im Herkunfts- wie im neuen Heimatland. Dieser spezielle Blick von außen soll hier
thematisiert werden, wenn sich auch in Bezug auf Erika Giovanna Klien dabei das
methodische Problem stellt, nur wenige Quellen dafür zur Verfügung zu haben.
Trotz der Gefahr einer interpretatorischen Schieflage möchte ich aber zumindest
versuchen, unter Einbeziehung des Werks, ein Bild von Kliens politischer Wahrneh-
mung in den 1930er-Jahren darzustellen.
Es sind mehrere Arbeiten von Erika Giovanna Klien erhalten, die sich dezidiert
mit innenpolitischen Themen der österreichischen Zwischenkriegszeit auseinander-
setzen. Interessanterweise stammen sie aus der Zeit, als sie sich bereits in den USA
187 Slg. Mautner Markhof Wien, Prov. NL Klien, EGK an Walter Klien (Sohn), New York 9.8.1948
(Kopie).
188 Vgl. Christoph Bertsch (Hg.), … wenn es um die Freiheit geht: Austria 1918–1938. Österreichische
Malerei und Graphik der Zwischenkriegszeit, Wien, München 2000, 16. Zu den in die USA emi-
grierten österreichischen KünstlerInnen vgl. John Czaplicka (Hg.), Emigrants and Exiles: A Lost
Generation of Austrian Artists in America 1920–1950, Evanston, Illinois 1996.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463