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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse232
3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus
„Die trunkene Seele will Raum und Zeit überfliegen.
Eine unnennbare Sehnsucht lockt in grenzenlose Fernen.
Man möchte sich von der Erde lösen, im Unendlichen aufgehen,
die Bande des Körpers verlassen und im Weltraum unter Sternen kreisen.
[…] Deshalb entsteht dieser phantastische Verkehr,
der Erdteile in wenigen Tagen kreuzt, der mit schwimmenden Städten
über Ozeane setzt, Gebirge durchbohrt, in unterirdischen Labyrinthen rast,
von der alten, in ihren Möglichkeiten längst erschöpften Dampfmaschine
zur Gaskraftmaschine übergeht und von Straßen und Schienen
sich endlich zum Flug in die Lüfte erhebt.“ 169
Im Geburtsjahr von Alfred Kubin (1877) entwickelte Thomas Alva Edison den Pho-
nographen, im Geburtsjahr von Oskar Kokoschka (1886) erhielt Daimler-Benz das
Patent für den ersten Benzinmotor und im Geburtsjahr von Aloys Wach (1892) Ru-
dolf Diesel jenes für den Dieselmotor, in Erika Giovanna Kliens Geburtsjahr (1900)
flog der erste Zeppelin am Himmel und in Margret Bilgers Geburtsjahr (1904)
wurde in New York die erste U-Bahn-Linie eröffnet.
Technisierung und Geschwindigkeit, die Beschleunigung der Welt, waren Schlag-
wörter der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Neben Faszination und Begeiste-
rung für den Fortschritt war diese Entwicklung von Beginn an auch von Skepsis, Ab-
lehnung und Ängsten begleitet. Der Erste Weltkrieg und das damit einhergehende
technologisch perfektionierte Massensterben schien den SkeptikerInnen Recht zu
geben. Aufzuhalten war der technologische Fortschritt aber nicht, besonders deut-
lich zu sehen am Siegeszug des Automobils, das als Symbol des beschleunigten
20. Jahrhunderts gilt. War das Auto vor dem Ersten Weltkrieg als Luxusprodukt
nur vereinzelt auf den Straßen anzutreffen gewesen, wurde das Autofahren in den
1920ern und 1930ern zunächst in den USA und etwas zeitverzögert auch in Europa
zum Massenphänomen, mit allen damit einhergehenden Vor- und Nachteilen. In
seiner Studie zum Jahr 1926 bemerkt Hans Ulrich Gumbrecht zum Automobil, das
er dort als „Dispositiv“ der Zeit analysiert: „In den Vereinigten Staaten, die allein 19
Millionen der weltweit existierenden 25 Millionen Autos aufzubieten haben (woge-
gen es in Deutschland nur 93.000 Wagen gibt), ist die Integration des Autos ins All-
tagsleben sehr viel weiter fortgeschritten. […] Infolgedessen ist die aristokratische
169 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.
Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München 1922, 629 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463