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4.4 Nationalsozialismus | 385
worden war. Als einziger aus Österreich stammender Künstler wurde Kokoschka
bei der Schau „Entartete Kunst“ diffamiert.
Vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Politik – der Kunstpolitik, der Politik
gegenüber Juden und Jüdinnen, politischen GegnerInnen und anderen Verfolgten, der
sich abzeichnenden Vernichtungspolitik und des Kriegs – geriet das Ideal eines aus-
schließlich der Kunst verpflichteten Künstlers unter stärkeren Rechtfertigungsdruck
als je zuvor. Auch bei den ProtagonistInnen der vorliegenden Arbeit lässt sich zeigen,
dass ein „unpolitisches“ Agieren spätestens mit Einsetzen nationalsozialistischer Po-
litik nicht mehr möglich war. Wie weit Anpassung oder Ablehnung gingen, ist unter-
schiedlich, in jedem Fall ist die Entscheidung darüber als politisch zu verstehen.
4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der
Nationalsozialismus
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 schrieb Al-
fred Kubin an seinen Freund Herzmanovsky-Orlando:
„So ward ich von der Einsamkeit des Krankenlagers derart in Anspruch genommen, daß
mir die mittlerweile ins Land hereingebrochene ‚Volkserhebung‘ gar nicht viel bedeutete,
erst jetzt sehe ich aber wie viel sich da auf fatale, wenn auch elementare Weise geändert
hat – zwar gilt meine Kunst, den Göttern sei’s gedankt durchaus ‚im Volke wurzelnd‘ ist
nicht diffamiert, doch zunächst hatte ich beruflich nur Schaden, denn man setzte Beamte
ab mit denen ich Abmachungen hatte, Galerieleiter etc., und das war sehr arg – hoffentlich
kommt nicht eine Kunstkultur gesinnungstüchtiger Zeichenlehrer herauf zu ungunsten
aller Qualität – Wie siehst Du’s denn? – [...] Glaubst Du werden die Nazi das alte Fragment
Österreichs auch bald schlucken und alles ‚gleichschalten‘ ich als völlig unpolitischer Kopf
hab keine Ahnung, meine nur für den Rest unserer Tage gibt es keine Ruhe mehr!“230
In dieser kurzen Briefstelle finden sich im Wesentlichen alle Aspekte, die Kubins
Verhältnis zum Nationalsozialismus prägen sollten: Neben dem stets dominanten
Thema des eigenen (Gesundheits-)Zustands galt Kubins erste Sorge verständlicher-
weise seiner Position als Künstler im neuen Regime. Die rigide Kunstpolitik und
reaktionäre Kunstauffassung der Nationalsozialisten war schon vor der Machter-
greifung bekannt. Der seit den 1920ern etablierte „Kampfbund für deutsche Kultur“
230 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt 9.7.1933, zit. nach Herzmanovsky-Orlando, Brief-
wechsel, 268.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463