Seite - 353 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 353
4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution
„[…] außerdem ist meine Ausstellung am 10. Nov. eröffnet worden,
am hiesigen Revolutionstag, also ein ganz hübsches Zusammentreffen.
Die Bilder sehen auch aus wie eine neue Zeit, die kommen wird und muss,
wenn sich erst die alte nicht mehr rührt und die neue ihre Kinderschuhe –
d.
i. Hysterie, Gekreisch und Wichtigtuerei – gelegt haben wird.“ 141
Kokoschka erlebte das Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland. Wie dargestellt
befand er sich im Umfeld des Sanatoriums Teuscher in Dresden, um seine Kriegs-
verletzungen zu kurieren. Seit 1916 bemühte er sich um Freistellung vom Kriegs-
dienst, dazu gehörten auch Bestrebungen, eine Professur an einer deutschen Aka-
demie zu erhalten.142 Während des Krieges sollte es noch nicht dazu kommen, aber
1919 wurde er an die Dresdner Akademie berufen. Die damit verbundene Forde-
rung nach Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft lehnte Kokoschka – wie er
autobiographisch erinnert – ab:
„Im sächsischen Kultusministerium erklärte ich dem für meine Angelegenheit zuständi-
gen Staatsbeamten, dass ich meine Zugehörigkeit zu dem Lande, wo ich geboren und des-
sen Geschichte die meine ist, nicht einfach wie ein Hemd zu wechseln gedächte, um einen
Pass zu erhalten. Jahre nachher, während des Anschlusses Österreichs an das Reich, als
ich als ‚entarteter‘ Künstler meiner Staatszugehörigkeit verlustig ging, begann ich anders
darüber zu denken. Aber der betreffende Ministerialrat war hilfreich gewesen und hat in
meinem Fall eine Ausnahme gemacht.“143
Sein Amt als Akademieprofessor trat Kokoschka im Herbst 1919 an, zu einer Zeit
als in Dresden nach wie vor revolutionäre Stimmung herrschte. Im Zuge der No-
vemberrevolution von 1918 hatten sich in Dresden Arbeiter- und Soldatenräte etab-
liert. Die Revolutionsregierung fand mit den Wahlen zur Nationalversammlung im
141 OK an Gustav und Romana Kokoschka, [Berlin] 12.11.1919, zit. nach Kokoschka, Briefe II, 9.
142 Vgl. dazu beispielsweise OK an seinen Vater im Oktober 1916: „Die Professur in Dresden und/
oder Berlin erhalte ich im November sicher, werde dann dazu vom Militär reklamiert, deshalb
bin ich ja hergefahren, weil ich das Kommende vorausgesehen habe.“ OK an Gustav Kokoschka,
[Berlin] 23.10.1916, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 256. Vgl. dazu auch Diether Schmidt, Dresdner
Rot. Oskar Kokoschka 1916 bis 1923 in Dresden und seine Beziehungen zur Dresdner Kunst, in:
Erika Patka (Hg.), Oskar Kokoschka. Symposion, abgehalten von der Hochschule für angewandte
Kunst in Wien anlässlich des 100. Geburtstages des Künstlers, Salzburg, Wien 1986, 203–219, 204;
Bonnefoit/ Held, Vom Kriegsmaler zum Pazifisten, 250 f.
143 Kokoschka, Mein Leben, 174.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463