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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse180
Für diese Studie wollte ich jene die ProtagonistInnen bestimmenden gesellschaft-
lichen Diskurse aus der Quelle heraus, im Konkreten also aus den vorliegenden
auto/biographischen Dokumenten, entwickeln. Diese sollten, wie sich bald zeigte,
eine hohe Übereinstimmung zu den aus der Forschungsliteratur zur Moderne be-
kannten Diskursen aufweisen, manche Gewichtung mochte aber überraschen: Dass
sich die Geschlechterfrage als besonders virulent zeigte, zählte dabei weniger zu den
Überraschungen, die hohe Aufmerksamkeit auf den Bereich spiritueller Sinnsuche
dafür umso mehr. Die Beschäftigung mit Philosophie und Religion, dabei auch mit
neu am „Markt“ befindlichen Angeboten wie der Theosophie oder fernöstlicher
Spiritualität, war tatsächlich für viele KünstlerInnen des frühen 20. Jahrhunderts
prägend. Die Auseinandersetzung mit der beschleunigten Zeit, mit Phänomenen
von Geschwindigkeit, Urbanität, Lärm zeigte sich ebenfalls als sehr präsent in den
Quellen, auch und nicht zuletzt in Verbindung mit dem zeitgenössischen Diskurs
um die Nerven und die Neurasthenie. Gruppiert um die Begriffe Geschlecht, Ge-
schwindigkeit und Esoterik soll all diesen Diskursfeldern im Folgenden – immer
ausgehend von der konkreten Biographie und den autobiographischen Dokumen-
ten – nachgegangen werden. Die ProtagonistInnen treten dabei gleichzeitig als In-
dividuen und als „Zeitwesen“ auf, die gemäß der eingangs gegebenen Definition das
Wesen ihrer Zeit widerspiegeln.
3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts
„Selten ist der uralte Prozeß, der zwischen Mann und Weib anhängig ist,
so laut und unanständig geführt worden, wie in unserer Epoche.“ 5
1908 veröffentlichte der deutsche Kunstkritiker und Publizist Karl Scheffler die Stu-
die „Die Frau und die Kunst“. Die Argumentationslinie des Buches ist einem Ge-
schlechterdiskurs verhaftet, der auf als natürlich vorausgesetzten Unterschieden
zwischen den Geschlechtern aufbaute, wobei Männlichkeit der Sphäre des Geistes
und der Kultur und Weiblichkeit der Natur zugeordnet war. Scheffler versuchte den
Beweis zu führen, warum jegliche Störung dieser scheinbar naturgegebenen Ord-
nung sowohl den Frauen wie auch den Männern und somit der gesamten Mensch-
heitskultur zum Schaden gereichen werde. Er übernahm dabei zeitgenössische Ar-
gumentationen, die sowohl im philosophisch-geisteswissenschaftlichen wie auch im
5 Karl Scheffler, Die Frau und die Kunst, Berlin o. D. [1908], 5.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463