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1.2 Künstlerauto/biographie | 59
1.2.3 Geniekonzept und Autobiographical Life
Steffen Krüger wies in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Kris als Autor der „Le-
gende vom Künstler“ darauf hin, dass die grundlegenden Thesen des Buches mit der
zeitgenössischen Diskussion in Bezug auf das Geniekonzept in Zusammenhang ge-
bracht werden müssen.84 Dieses sich spätestens in der deutschen Romantik heraus-
bildende Konzept war für die Konstruktion eines Künstlerbildes bis in das 20. Jahr-
hundert hin nachhaltig prägend,85 geriet aber gerade zum Zeitpunkt des Entstehens
der „Legende vom Künstler“ im empirisch orientierten Umfeld des Wiener Kreises86
in Kritik. In seiner Studie „Die Geniereligion“ unterzog Edgar Zilsel87 die Konzep-
tion des Genies einer ebenso kritischen wie süffisant formulierten Untersuchung.
Zilsel ortete eine zeitgenössische (das Buch entstand während des Ersten Weltkriegs
und wurde 1918 erstveröffentlicht) Genieverehrung, die er als Religion bezeichnete.
Als solche verfüge sie über klare Dogmen, deren zwei wichtigste er wie folgt charak-
terisierte: Erstens gebe es eine klare Trennung der Menschen in eine große Gruppe
der Nicht-Schöpferischen und eine wesentlich kleinere Gruppe der „Genies“. Bei
diesen handle es sich um Menschen (Männer), die sich durch absolute Eigenstän-
digkeit und Originalität auszeichneten und von geradezu göttlicher Schöpferkraft
umgeben seien. Trotz ihrer Individualität – so das zweite Dogma – verstünden sie
84 Vgl. Krüger, Die Legende vom Künstler als Propagandastrategie, 112
ff. Diesen Bezug stellt Krüger
über den zeitgenössischen Kontext des Aufstiegs von Adolf Hitler her und bringt textuelle Verglei-
che zwischen der „Legende vom Künstler“ und einer psychologischen Studie über Adolf Hitler, die
1942 vom Office of Strategic Services (OSS) in Auftrag gegeben worden war und an der Ernst Kris
mitgearbeitet hatte: Walter C. Langer, mit Ernst Kris, Henry A. Murray and Bertram D. Lewin, A
Psychological Study of Adolf Hitler. His Life and Legend, unveröff. Studie für das OSS, Washington
1942–43, National Archives. Zur Tätigkeit von Kris im Dienst der alliierten Kriegspropaganda vgl.
auch Uta Grundmann, Ernst Kris (1900–1957). Von der Kunstgeschichte zur Analyse Nationalso-
zialistischer Propaganda. Diplomarbeit, Berlin 2000.
85 Zum Geniediskurs in der deutsch(sprachig)en Geistesgeschichte vgl. u.a.: Jochen Schmidt, Die Ge-
schichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945,
Darmstadt 1985; Julia Barbara Köhne, Geniekult in Geisteswissenschaften und Literaturen um
1900 und seine filmischen Adaptionen, Wien, Köln, Weimar 2014.
86 Der Wiener Kreis war eine Gruppe von Philosophen und Naturwissenschaftern an der Universität
Wien, die sich in interdisziplinären Gesprächsrunden wissenschaftstheoretischen Fragestellun-
gen mit einem empiristischen und neopositivistischen Zugang näherten. Vgl. Friedrich Stadler,
Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext,
Dordrecht, Heidelberg, London, New York 2015.
87 Edgar Zilsel (1891–1944) war ein in Wien geborener Mathematiker, Physiker und Philosoph, der
dem Wiener Kreis nahestand.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463