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1.3 Auto/Biographische Quellen | 63
einander nicht beeinflussende Stränge (Lebenslauf und am Ende oder nach dem
Leben ein auto/biographischer Rückblick) stehen einander gegenüber, sondern ein
bereits zu Lebzeiten vorhandenes autobiographisches Modell prägt die Lebensfüh-
rung und konstruiert das auto/biographische Bild einer Person. Oder wie es der
bereits zitierte Autor Berthold Viertel, Zeitgenosse der hier genannten Personen von
Freud bis Kubin,95 für sich formuliert hat: „Wir alle arbeiten zeitlebens an unseren
Biographien, auch wenn wir keine Selbstbiographie schreiben. Wir versuchen sie zu
leben.“96
Pletsch entwickelte sein Modell vom autobiographischen Leben in Bezug auf die
Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert und sah es als zentralen Teil der Genie-
Konzeption, es lässt sich aber in Teilen zumindest auch auf andere biographische
Settings übertragen.97 Für die vorliegende Arbeit bildet Pletschs Modell ein zentrales
Theoriemoment, vor dessen Folie die auto/biographischen Selbstkonzeptionen der
hier untersuchten KünstlerInnen durchleuchtet werden. Das Konzept des autobio-
graphical life ist in sehr fruchtbarer Weise kombinierbar mit dem ebenfalls bereits
zitierten theoretischen auto/biographischen Ansatz von Liz Stanley. Die von Stan-
ley postulierte Aufhebung der Trennung von biographisch und autobiographisch
entspricht in vielem den Ansätzen von Carl Pletsch, wonach das bewusste Führen
eines „autobiographischen Lebens“ allfällige spätere Biographien klar beeinflusst
beziehungsweise vice versa die Aussicht auf den Biographen das autobiographische
Handeln mitbegründet. Eine klare Grenzziehung zwischen „biographischen“ und
„autobiographischen“ Konstruktionen kann so nicht gedacht werden.
1.3 Auto/Biographische Quellen
Wie bereits in der Einleitung problematisiert, fehlt in der Geschichtswissenschaft
eine klare beziehungsweise übereinstimmende Definition des Begriffs der „auto/
biographischen“ Quelle, für die auch weitere Begrifflichkeiten wie „Ego-Doku-
95 Berthold Viertel (1885–1953), Autor, Dramaturg und Regisseur, in Wien geboren emigrierte er
während der NS-Zeit in die USA, 1947 kehrte er nach Europa zurück. Vgl. Prager, Berthold Viertel.
96 Viertel, Das gespaltene Ich, 10–13.
97 Vgl. z.B. die Bezugnahme auf Pletsch bei Thomas Söderqvist, Wissenschaftsgeschichte à la Plutarch.
Biographien über Wissenschaftler als tugendethische Gattung, in: Hans Erich Bödeker (Hg.), Bio-
graphie schreiben, Göttingen 2003, 285–325. Eine mögliche Übertragbarkeit der Theorie von Carl
Pletsch auf andere, teils auch zeitgenössische autobiographische Phänomene (Stichwort Social Me-
dia) wurde beim 8. Workshoptreffen des Netzwerks Biographieforschung am 6.11.2015 an der Uni
Wien diskutiert. Ich danke allen TeilnehmerInnen für die Diskussion, die mir zahlreiche Impulse
geliefert hat. Vgl. http://biographieforschung.univie.ac.at (2.9.2019).
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463