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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung72
Künstlerbriefe, wie jene Alfred Kubins, dürfen als spezielles Segment des Gesamt-
komplexes brieflicher Quellen betrachtet werden, die schon lange im Fokus (kunst-)
historischer Betrachtung, aber auch allgemeinen Interesses stehen – sei es in Bezug
auf ihren Inhalt, aber auch, wie hier von Kubin erwähnt, als wertvolle Autographen.
Schon bevor Briefe „gewöhnlicher Menschen“ im Zuge einer Zuwendung zur All-
tags- und Sozialgeschichte für die Historiographie interessant zu werden begannen,
standen Korrespondenzen herausragender Personen, wozu neben Politikern und
Herrschern Künstler (bildende wie auch Literaten oder Musiker) zweifelsfrei gezählt
wurden, im Interesse von historischer Betrachtung, erfreuten sich aber auch eines
allgemeinen Publikumsinteresses. Häufig wurden solche Korrespondenzen daher
publiziert, was für den Prozess und die Praxis des Briefeschreibens unter Künst-
lerInnen wiederum weitreichende Auswirkungen hatte, die quellenkritisch unbe-
dingt zu berücksichtigen sind: Erstens relativiert sich vor diesem Hintergrund – wie
für die genannten Beispiele Strindberg und Kubin gezeigt – der scheinbar intime
Rahmen einer solchen Korrespondenz, konnte doch bereits beim Verfassen eines
Briefes eine etwaige spätere Veröffentlichung Inhalt und Schreibpraxis beeinflussen.
Zweitens muss davon ausgegangen werden, dass die veröffentlichten Künstlerkorre-
spondenzen – ähnlich wie im Falle der Künstlerautobiographien – weitreichenden
Vorbild- und Modellcharakter hatten.
1.3.3 Tagebuch
„Tagebücher sind, wie Autobiographien und Briefe, materialisierte Zeit.“114
Wie der Brief wird auch das Tagebuch in der Geschichtswissenschaft den Ego-Do-
kumenten zugerechnet und lange als Garant für besonders intime und somit wahr-
haftig scheinende Informationen betrachtet. Auch hier änderten sich Zugang und
Interpretationsrahmen zur Quelle im Zuge des cultural turn stark, indem das Primat
des Inhaltlichen einer stärkeren Fokussierung auf die „Praxis des Tagebuchschrei-
bens“ weichen musste.115
Galt schon der Brief als private und wahrhaftige Quelle, musste dies beim Ta-
gebuch noch stärker gelten, scheint doch der Schreiber oder die Schreiberin hier
gänzlich mit sich allein zu sein. Daher rührte auch die Vorstellung – oder um mit
114 Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, 9.
115 Vgl. Nicole Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof/Susanne Rohr (Hg.), Inszenierte
Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, 39–60.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463