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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 349
wirklich belegt werden, dennoch boomten die Sanatorien, die damit Erfolg verspra-
chen.127
Resümierend lassen sich manche biographischen Mythen, die über Kokoschkas
Einsatz im Ersten Weltkrieg entstanden sind, bei der Betrachtung unterschiedlicher
autobiographischer Dokumente etwas korrigieren. Die so oft zu findende Darstellung,
Kokoschka sei aufgrund seiner unglücklichen Liebe zu Alma Mahler freiwillig in den
Krieg gezogen, ist zumindest zu relativieren. Seine Meldung erfolgte keineswegs „frei-
willig“ im Sinne vorhandener Alternativen. Kokoschka wäre, wie er auch klar selbst
schreibt, in jedem Fall eingezogen worden, er kam einer Einziehung bestenfalls vor-
aus, indem er sich als „Einjährig-Freiwilliger“ meldete. Seine beiden Einsätze, Gali-
zien und Isonzo, können nicht miteinander verglichen werden, war er doch in Gali-
zien als Kavalleriesoldat und am Isonzo als Kriegsmaler eingesetzt. Die Tätigkeit für
das Kriegspressequartier versuchte Kokoschka in seiner Autobiographie zwar nicht
gänzlich zu verschweigen, immerhin spricht er davon als „Verbindungsoffizier“ Maler
an den Isonzo begleitet zu haben. Dass er bei dieser Mission allerdings auch selbst
als Kriegsmaler eingesetzt war, wie es die Akten des KPQ klar belegen, wird nicht
erwähnt. Klar ist, dass der Krieg ein zentraler Einschnitt war, der den Menschen Ko-
koschka physisch wie psychisch stark in Mitleidenschaft gezogen und damit auch die
künstlerische Produktion jener Jahre zumindest eingeschränkt hat, was eine weitere
Belastung darstellte.128 Eindrucksvoll liest sich in den Briefen des Künstlers aus den
Jahren 1915 und 1916 der wiederholt geäußerte Wunsch nach sofortiger Beendigung
des Kriegs und ebenso eindrucksvoll – trotz Pathos – auch das Resümee in der Auto-
biographie: „Tu Felix Austria hättest nicht Krieg führen sollen!“129
4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“
„Ich begrüsse und beglückwünsche Sie als neugebackenen Republikaner!“ 130
Mit dem Ende des Krieges und der Ausrufung der Republik im November 1918 än-
derten sich auch für die Kunstschaffenden in Österreich – sowie in Deutschland, das
aufgrund der biographischen Bedingungen der betroffenen Künstler in diesem Ka-
pitel miteinbezogen wird – zentrale Rahmenbedingungen. Die starke Politisierung
127 Vgl. Hofer, Nervenschwäche und Krieg, 136 ff.
128 Zum interessanten Projekt einer nie publizierten „Kriegsmappe“ mit Antikriegsbildern Kokosch-
kas aus dem Jahr 1917 vgl. Bonnefoit/Held, Vom Kriegsmaler zum Pazifisten, 251
f.
129 Kokoschka, Mein Leben, 173.
130 AK an Reinhard Piper, Wernstein, 11.11.1918, zit. nach Kubin/Piper, Briefwechsel, 117.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463