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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung54
1.2.2 „Biographische Formeln“: Die „Legende vom Künstler“
Wie schon von Vasari intendiert, wurde die Künstlerbiographie immer auch für die
Künstler selbst geschrieben, die Geschichten sollten Vorbildwirkung haben und po-
sitiver Ansporn sein. Die Lektüre von Künstlerbiographien wie auch das dadurch
implizit erworbene Wissen über Rollenbilder war (und ist) konstituierend für eigene
Rollendefinitionen von Künstlerinnen und Künstlern. In der bereits erwähnten zen-
tralen Arbeit von der „Legende vom Künstler“ verwiesen die beiden Autoren Ernst
Kris und Otto Kurz deutlich auf die Wechselwirkung von Biographik und Lebens-
entwurf und formulierten dafür das Schlagwort der „Gelebten Vita“:
„Ein doppelter Zusammenhang scheint zwischen Biographik und Lebenslauf zu bestehen.
Die Biographik verzeichnet das typische Geschehen und durch die Biographik wird das
typische Schicksal eines Berufsstandes geprägt, ein typisches Schicksal, dem der Tätige
sich ein Stück weit unterwirft. Diese Beziehung betrifft nicht ausschließlich oder vor al-
lem das bewußte Denken und Handeln des einzelnen – in dem sie durch eine besondere
‚Berufsethik‘ vertreten sein mag –, sondern gehört dem Unbewußten an. Das psycholo-
gische Gebiet, auf das wir hier hindeuten, mag man unter dem Schlagwort ‚Gelebte Vita‘
begreifen.“67
Mit der „Legende vom Künstler“ waren Kris und Kurz die ersten, die den narrati-
ven Modellen – von ihnen als „biographische Formeln“ bezeichnet – in Bezug auf
Künstlerbilder wissenschaftlich nachgingen und deren historische Dimension so-
wie psychologische Wirkmechanismen aufzeigten. Der Kunstwissenschafter und
Psychoanalytiker Ernst Kris und sein Assistent Otto Kurz68 näherten sich der Frage
nach der Positionierung des Künstlers in der Gesellschaft, aber auch nach seiner
Selbstwahrnehmung auf zwei Ebenen – der soziologischen und der psychologi-
schen. Ihre 1934 erschienene Studie prägt die KünstlerInnenforschung bis heute,
wiewohl das Werk mehrere Jahrzehnte lang auf seine (Wieder-)Entdeckung warten
67 Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, 164. Ähnlich argumentierten wenige Jahrzehnte später auch
Margot und Rudolf Wittkower, wenn sie schrieben: „Unter gewissen Bedingungen und in gewissen
Zeiten jedoch haben die Künstler gelebt, wie man es von ihnen erwartete.“ Rudolf Wittkower/Mar-
got Wittkower, Künstler. Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1965, 280.
68 Zur Rollenteilung der beiden Autoren vgl. das Vorwort von Ernst H. Gombrich zur englischspra-
chigen Ausgabe der „Legende vom Künstler“ von 1978: „Ernst Kris verdanken wir also die tiefe
Einsicht, daß die Geschichten, die allerorten und zu allen Zeiten von Künstlern erzählt werden,
eine allgemeine menschliche Reaktion auf den geheimnisvollen Zauber des Bildermachens spie-
geln; Kurz verdanken wir die Erfindungsgabe des Aufspürens von Parallelen, um die Allgegenwart
dieser Motive zu illustrieren und nachzuweisen.“ Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, 12.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463