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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 185
3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne
„Dr. Otto Weininger,
für mich der größte Mensch des Jahrhundert [sic]“ 21
Im Oktober 1903 erschoss sich Otto Weininger in Wien. Alfred Kubin bezeichnete
nur wenige Tage später den jungen Philosophen als größten Menschen des Jahr-
hunderts – dabei war dieses noch jung (oder meinte Kubin das bereits vergangene
19. Jahrhundert?) und Weiningers Œuvre vergleichsweise schmal. Im Wesentlichen
bestand es aus der aus Weiningers Dissertation hervorgegangenen Schrift „Ge-
schlecht und Charakter“, ein Werk, das sich bald nach Erscheinen, respektive nach
Weiningers aufsehenerregendem Selbstmord, im Zentrum des misogynen Diskur-
ses der Kultur des Fin de Siècle positionieren konnte.22 Kubin hatte über Weiningers
Tod vermutlich aus einem Nachruf in der „Neuen Freien Presse“ erfahren,23 denn in
einem Brief an Fritz Herzmanovsky-Orlando nahm er Bezug auf mehrere Informa-
tionen, die in diesem Nachruf zu lesen waren:
„Könnten Sie vielleicht in Erfahrung bringen ob Dr.
Otto Weiningers nachgelassenes Ma-
nuscript ‚die Cultur in ihrem Verhältnis zu Glauben und Wissen‘, – veröffentlicht wird.
Weininger ist der Verfasser des im Frühjahr erschienen Werkes ‚Geschlecht und Charak-
ter‘ und ‚Erbsünde‘.“24
Das genannte „nachgelassene Manuskript“ wurde tatsächlich veröffentlicht, und
zwar in einer posthum erschienenen Ausgabe verschiedener Schriften Weiningers
unter dem Titel „Über die letzten Dinge“.25 In einem Schreiben aus dem Jahr 1910
empfahl Kubin seinem Freund Herzmanovsky-Orlando die Lektüre jenes Werks,
eingereiht in einer Auswahl von Schriften, die er als bedeutend erachtete, der Titel ist
21 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, München 8.10.1903, zit. nach Fritz Herzmanovsky-Orlando,
Der Briefwechsel mit Alfred Kubin 1903 bis 1952. Hg. und kommentiert von Christian Klein, Salz-
burg, Wien 1983, 7.
22 Ich fokussiere an dieser Stelle auf die misogyne Ausrichtung des Buches, eine Diskussion in Bezug
auf die antisemitischen Aspekte von Weiningers Schrift erfolgt an dieser Stelle nicht. Verwiesen sei
auf die bestehende Literatur, v.a. Le Rider, Der Fall Otto Weininger.
23 Neue Freie Presse, 6.10.1903.
24 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, München 8.10.1903, zit. nach Herzmanovsky-Orlando,
Briefwechsel, 7.
25 Otto Weininger, Die Kultur und ihr Verhältnis zu Glauben, Fürchten und Wissen, in: Otto Weinin-
ger, Über die letzten Dinge, Wien, Leipzig 1922 [EA 1907], 131–171.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463