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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life | 91
Die Münchner Jahre beschrieb Kubin als befriedigende Zeit, in der er fand, was
er bisher gesucht hatte. Initialerlebnis für seine künstlerische Entwicklung sei ein
Besuch des Kupferstichkabinetts und die Auseinandersetzung mit dem Werk von
Max Klinger gewesen:
„Noch vor den Blättern [Anm.: Klingers] gelobte ich mir, mein Leben dem Schaffen sol-
cher Dinge zu weihen.“33
Interessant erscheint Kubins weitere Schilderung, nach dem Besuch des Kupfer-
stichkabinetts von einem „Sturz von Visionen“ überfallen worden zu sein. Das Mo-
tiv eines „Wunderrausches“ von Bildern, die ihn überkommen haben, und die er nur
mehr „ab[zu]zeichnen“ brauchte, taucht hier erstmals auf. Es sollte die Rezeption
des Künstlers Alfred Kubin prägen, der wie kein anderer als Künstler des Unbe-
wussten, des Traumes rezipiert wird. Schilderungen solcher Rauschzustände waren
es sicher auch, die immer wieder Anlass zu Mutmaßungen über Kubins geistigen
Gesundheitszustand – Stichwort psychotische Zustände – gaben.34
Der junge Kubin begann von der Kritik wahrgenommen zu werden, die Akade-
mie besuchte er nicht mehr, vielmehr war er nun zentrales Mitglied der Schwabinger
Bohème. Dass diese ihn in seinem stilisierten Künstler-Habitus nicht immer ganz
ernst nahm,35 geht aus den Lebenserinnerungen nicht hervor, dafür aber, dass über
die Bekanntschaft mit Hans von Weber 1903 sein Durchbruch erfolgte.36 Tatsächlich
33 Kubin, Aus meinem Leben, 25.
34 Nachdem sich bereits Wolfgang Müller-Thalheim mit Kubins psychischer Disposition auseinan-
dergesetzt hat, verweist in einem jüngeren Beitrag die Medizinhistorikerin Maike Rotzoll auf Ku-
bins Selbstinszenierung, in der er mit dem „Wahnsinn“ auch kokettiert habe. Vgl. Maike Rotzoll,
„Ich muss zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen“. Genie und Wahnsinn in autopathographischen
Ego-Dokumenten von Künstlern aus dem frühen 20. Jahrhundert, in: Philipp Osten (Hg.), Pati-
entendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen, Stuttgart 2010, 177–193. Abseits des pathologi-
schen Diskurses gilt es in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass Rauschzustände wie
die oben beschriebenen von KünstlerInnen häufig auch bewusst herbeigeführt wurden – durch
die Einnahme von bewusstseinserweiternden Drogen. Kubin selbst hat wie viele seiner Zeitgenos-
sInnen auch mit Haschisch experimentiert. Vgl. Regina Thumser-Wöhs, „…zauberlacht Unlust in
blaue Heiterkeit“. Sucht und Kunst im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Innsbruck 2017; dort im
Besonderen zu Kubin: 375 ff.
35 Zu Kubins Schwabinger Zeit vgl. Annegret Hoberg, Kubin und München 1898–1921, in: Dies.
(Hg.), Alfred Kubin. 1877–1959, München 1990, 43–66; Annegret Hoberg, Alfred Kubin – Die In-
szenierungen eines Künstlers im München der Jahrhundertwende, in: Peter Assmann/Peter Kraml
(Hg.), Die andere Seite der Wirklichkeit, Linz, Salzburg 1995, 11–30.
36 Kubin, Aus meinem Leben, 30.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463