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dere Gültigkeit zu haben: „Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fra-
gen, die man stellt.“75
Für die vorliegende Studie diente Kubins Autobiographie nicht als biographischer
„Steinbruch“, sondern als Analysebasis für die Frage nach dem Identitätsnarrativ des
Künstlers im Kontext bestehender Künstlerbilder. Resümierend kann dazu festge-
stellt werden, dass sich zahlreiche der „Legenden“ der Künstlerbiographik, wie sie
von Ernst Kris und Otto Kurz beschrieben worden sind, in Kubins Autobiographie
nachweisen lassen:
1) das Motiv einer unglücklichen, unverstandenen Kindheit;76
2) die Erwähnung der frühen Begabung für das Zeichnen und die Darstellung der
Schwierigkeit, sich gegen eine Umwelt, die eine andere Laufbahn vorsieht, auf-
lehnen zu müssen;
3) die Erzählung von der zufälligen Entdeckung des Talents, im Falle Kubins durch
einen Freund der Familie, der dazu anregt den jungen Kubin auf eine Kunstaka-
demie zu schicken;
4) das Motiv der Fähigkeit des Künstlers, aus dem „Inneren“ heraus zu schaffen,77
5) die Wahrnehmung, dass die Vorbedingung für schöpferisches Agieren in der
Einsamkeit und Verzweiflung des Künstlers liege.
Kubins Autobiographie ist klar auf seine künstlerische und menschlich-innerliche
Entwicklung fokussiert. Zeitgeschehen als solches kommt nur vor, wenn es unmit-
telbaren Bezug zu Kubins Leben, speziell zu seinem Leben als Künstler hat. Un-
mittelbare politische Bezugnahmen oder persönliche Stellungnahmen finden sich
wenig, am meisten Raum ist dabei noch dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Die Zeit
der Ersten Republik und der österreichische Ständestaat werden in der Autobio-
75 Volker Depkat, Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum
Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung, in: Thomas Rathmann/Nikolaus
Wegmann (Hg), ‚Quelle‘. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion,
Berlin 2004, 102–117.
76 Dabei steht vor allem der Vater-Sohn-Konflikt im Mittelpunkt, dieser wurde in der Kubin-Biogra-
phik bislang auch am stärksten diskutiert. Vgl. Müller-Thalheim, Erotik und Dämonie, 12. Nicht
thematisiert wurde bisher eine Deutung im Sinne des Freud’schen Familienromans, der bei Ernst
Kris eine zentrale Rolle einnimmt, wonach sich das Kind nicht als leiblicher Abkömmling seiner
Eltern empfindet. Vgl. Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, 62. Zu erwähnen ist auch noch, dass
Kubins Vater-Sohn-Konflikt auch zeitparadigmatisch im Sinne Carl Schorskes gesehen werden
kann. Vgl. Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Wien 2017 [amerik.
Original: Fin-de-Siècle Vienna: Politics and Culture, New York 1980].
77 In der Autobiographie Kubins besonders deutlich in der anekdotischen Erzählung vom „Bilder-
rausch“, der ihn erstmals in München überkommen habe. Vgl. Kubin, Aus meinem Leben, 26–29.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463