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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 123
daß Alma Mahler ihren schon erwogenen Entschluß durchführte, in die Klinik ging und
sich das Kind, mein Kind, nehmen ließ.“137
So wehrte sich Kokoschka zwar gegen Alma Mahlers Anschuldigungen in deren
Memoiren, bestätigte aber gleichzeitig selbst, wie weit sein Besitzanspruch in Bezug
auf die Geliebte ging. In der Gesellschaft, in der Alma Mahler sich bewegte, fühlte er
sich, vor allem im Vergleich zum übermächtigen Mahler, nicht anerkannt. Er fürch-
tete, Alma durch diesen Einfluss verlieren zu können, für ihn die Erklärung, warum
er Alma der Gesellschaft entziehen und für sich haben wollte:
„Sie konnte nicht vergessen, daß sie mit einem weltberühmten Dirigenten und Komponis-
ten verheiratet gewesen war, während ich höchstens berüchtigt – und dies bloß in Wien
– und unbemittelt war. Ich haßte die Gesellschaft, die sie unsicher gemacht hat, weshalb
ich, eifersüchtig auf jeden fremden Einfluß, sie mit allen Mitteln zu isolieren versuchte. Sie
bewahrte mir in der ersten Zeit ihre Liebe, doch später lehnte sie sich auf.“138
Ebenfalls belastend für die Beziehung war die Ablehnung Alma Mahlers durch die
Mutter Kokoschkas. Nach seiner Aussage sei sie massiv gegen das Verhältnis mit
der älteren Witwe gewesen, die sie im Verdacht gehabt habe, ihrem Sohn nur Leid
zuzufügen. Kokoschkas Bindung zur Mutter war stark,139 in der Autobiographie er-
scheint diese Konstellation aber nicht als belastende Situation, sondern humoris-
tisch in Anekdotenform gepackt: So beschrieb Kokoschka, wie seine Mutter, als sie
von einem Rendezvous erfahren hatte, stundenlang vor Alma Mahlers Fenster pat-
rouilliert habe, die Hand „verdächtig in der Manteltasche bewegend“, also offenbar
einen Revolver andeutend. Laut Kokoschka mussten sie beide, die Mutter und er,
anschließend über den „Streich“ lachen.140
Die Beziehung zu Alma Mahler fand intensiven Niederschlag in Kokoschkas
Werk. In der Autobiographie berichtete er von seiner Verarbeitung im Gedicht „Al-
los Makar“ und im Bühnenstück „Orpheus und Eurydike“, in dem, wie er es formu-
137 Kokoschka, Mein Leben, 130.
138 Kokoschka, Mein Leben, 129.
139 Über Kokoschkas Verhalten in Gegenwart seiner Mutter notierte die Wiener Kunsthistorikerin
Erica Tietze (Kokoschka fertigte 1909 das Doppelporträt des Ehepaares Erica und Hans Tietze) in
ihrem Tagebuch: „Hans [Anm.: Tietze] erzählte, wie OK’s Stimme einen falschen Ton bekommt,
wenn er mit d. Mutter spricht. Wie ein Schulbub, der Angst hat.“ Zit. nach Alexandra Caruso (Hg.),
Erica Tietze-Conrat. Tagebücher. Bd. 1, Wien 2015, 222 (Eintrag 9.4.1924).
140 Kokoschka, Mein Leben, 127.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463