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2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente | 151
ihrer eigenen Arbeiten an der New School for Social Research gehabt hatte, schrieb
sie an ihre Mutter:
„die Zeitungsnotizen über meine Ausstellung habe ich übersehen – ich bin trostlos – es
gibt Büros – die solche Dinge sammeln – das kostet aber $ 10 – ich selbst kann nicht 14
Tage lang täglich 1000 Zeitungen kaufen und lesen – […] – bei d. nächsten Ausstellung
zahle ich doch 10 dollar“230
Der Mangel an Geld, Zeit und Unterstützung erschwerte eine umsichtige Image-
und Nachlasspflege massiv oder anders ausgedrückt: Das Führen eines autobiogra-
phischen Lebens muss man sich leisten können. Die Frage der Ressourcen ist zwei-
fellos wichtig, Carl Pletsch folgend ist das bewusst gelebte autobiographische Leben
aber vor allem eine Frage der Selbstwahrnehmung hinsichtlich der Rolle, die jemand
für sich vorsieht oder erwartet. Es geht also nicht zuletzt um die Beurteilung der
eigenen „Biographiewürdigkeit“, und dass es diesbezüglich geschlechterspezifische
Unterschiede (zu Ungunsten der weiblichen Künstler) zu beobachten gibt, wurde in
dieser Studie bereits besprochen.
Zum zweiten Punkt, der posthumen Überlieferungsgeschichte der autobiogra-
phischen Quellen, ist im Falle Kliens Folgendes festzustellen: Es kann davon aus-
gegangen werden, dass Erika Giovanna Klien zum Zeitpunkt ihres Todes in den
1950er-Jahren keinen systematisch aufgebauten oder betreuten Nachlass hinterließ.
Klien war alleinstehend, hilfreiche Netzwerke, Mäzene oder SammlerInnen waren
ihr zeitlebens immer mehr abhandengekommen. Es gab nach ihrem Tod auch keine
‚Künstlerwitwe‘, die sich der Nachlasspflege und der Verbreitung posthumen Ruhms
widmete, wie dies bei vielen Künstlern der Fall war.231 Nur die Tatsache, dass Kliens
Schwester, die Ärztin Bertha Klien-Moncreiff, die ebenfalls in den USA lebte und für
ihre Schwester schon zeitlebens eine wichtige unterstützende Rolle eingenommen
hatte, Werk und private Dokumente Kliens aufbewahrte, schuf die Grundlage für
die spätere „Entdeckung“ dieses Nachlasses.
Darauf und auf die im Folgenden noch detailliert darzustellende Geschichte die-
ser Entdeckung wird hier deshalb so ausführlich eingegangen, da ich, wie bereits
eingangs postuliert, dem genauen Blick auf die Genese von Nachlässen eine zen-
trale Rolle in Bezug auf auto/biographische Konstruktionen zuspreche. Wie kam
230 Sammlung Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, New York 30.3.1930. Erika Giovannas Schreib-
weise ist davon geprägt, dass sie fast nur Bindestriche als Interpunktionen verwendet.
231 Zur Bedeutung der „Künstlerwitwe“ als Nachlassverwalterin vgl. auch Renate Berger (Hg.), „Und
ich sehe nichts, nichts als die Malerei.“ Autobiographische Texte von Künstlerinnen des 18.–
20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1987, 12.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463