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2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente | 161
Frau tritt hier in ihrer Eigenschaft als Künstlerin auf, die aufgrund ihrer modernen
Ausrichtung angefeindet und ausgeschlossen wird. Der „Redakteur des Klessheimer
Sendboten“ berichtet, dass dieser, also Klien selbst, dem „Wirtschaftsverband Bil-
dender Künstler Salzburgs“ beigetreten sei und jede Woche zum Aktzeichnen gehe.
Die Anfeindungen, die Klien dort offenbar erfuhr, lassen sich aus den Darstellungen
erschließen: Die junge Künstlerin fertigt ein kinetisch aufgebautes Aktmodell an,
daneben steht eine Gruppe sich empörender, meist älterer und männlicher Kolle-
gen, in deren Sprechblasen sich die Aussagen „Entehrung der Kunst“, „Blödsinn!
Schwindel!“ und „Geschmacklosigkeit! Dreck!“ und „Pfui!“ finden.
In einer weiteren Bildsequenz stehen einander die junge Frau und die Gruppe der
Gegner in einem Duell mit überdimensionierten Bleistiften gegenüber. Als „Jungfrau
von Klessheim“ kämpft Klien gegen eine Übermacht, die die konservative Kunstelite
darstellt und Schilder mit den Parolen „Es lebe das ehrliche Können!!!“, „Nieder die
Kunstschänderin!“, „Tod der Kommunistin“, „Bleib ehrlich und conservativ!“ und
„Ins Irrenhaus mit ihr!“ trägt. Der Ausgang des Duells bleibt offen, der Kampfgeist
der jungen Künstlerin scheint aber ungebrochen, denn in ihrer Sprechblase steht:
„Und wenn im Kampf die mutigsten verzagen – ich kämpfe – ich verzage nicht!“ Am
unteren Rand des Bildes findet sich eine Szene, die die junge Frau in dieser Situation
offenbar als Ausweg für sich findet: Sie ist dort zu sehen in enger Umarmung mit
einem jungen Mann und dem Spruch „Habt’s mich gern! Es lebe das Leben.“252
Mangels anderer Quellen wissen wir kaum Konkretes über die Wahrnehmung
der künstlerischen Außenseiterposition, die Klien in Salzburg vermutlich noch stär-
ker als in ihrem Wiener Umfeld empfand. Die Parolen, die sie ihren Gegnern in
den Mund legt, sind jedenfalls die zentralen Formeln des in der österreichischen
Zwischenkriegszeit präsenten Kulturkampfs zwischen den Vertretern einer konser-
vativen oder gemäßigt modernen Richtung und der nur spärlich vertretenen Avant-
garde, die sich wie die KinetistInnen an internationalen Strömungen wie Kubismus
oder Futurismus orientierten. Klien sah sich als einsame Kämpferin für die Mo-
derne, ihre Waffen – so die Darstellung am „Sendboten“ – waren Bleistift und Pinsel.
Die Flucht in die Liebe beziehungsweise Erotik kann als Gegenmodell betrachtet
werden, das die Künstlerin für sich in Anspruch nahm. Auch in anderen, späteren
autobiographischen Aufzeichnungen findet sich dieser Konflikt einer nach privatem
Glück strebenden und des Kampfes oft müden Frau wieder.253
Als die „Sendboten“ 1927 entstanden, war der weitere Karriereweg Kliens noch
weitgehend offen. Sie hoffte, die Duncan-Schule würde nach Paris übersiedeln, was
252 Erika Giovanna Klien, Klessheimer Sendbote, „Skandal-Nachrichten 12.2.1927“.
253 Vgl. dazu das Kapitel 3.1.3.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463