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sich174
„Künstlerische Leitbilder hatte ich eigentlich keine. […] Am nächsten vielleicht stand mir
Paula Modersohn-Becker als Frau, ,die die Erde feierte‘.“292
Schon in einem Brief in den 1930er-Jahren hatte Bilger vom Eindruck, den die Bil-
der der expressionistischen Künstlerin Paula Modersohn Becker auf sie gemacht
hatten, berichtet,293 und in Bilgers Schlafkammer hing der Nachdruck eines Gemäl-
des der Künstlerin. Trotz dieses Verweises – interessanterweise auf eine Künstle-
rin – überzeugt Bilgers lapidarer Satz „eigentlich keine“ künstlerischen Leitbilder
gehabt zu haben. Die Feststellung, zusammenhanglos am Ende des Textes, wirkt wie
pflichtschuldig eingefügt. Für die immer „aus dem Inneren“ schöpfende Künstlerin
stellte sich die Frage nach einem Leitbild wohl nicht, gleichwohl war ihr bewusst –
zweifellos war sie dies als Künstlerin oft gefragt worden –, dass die Frage nach Leit-
bildern zum „Lebensbericht“ einer Künstlerin dazugehöre. Während diese Passage
damit eher pflichtgemäß dem Genre der autobiographischen Darstellung geschuldet
wirkt, zeigt sich der Abschluss des Textes wiederum sehr individuell „bilgerisch“. Die
Künstlerin schloss den Rückblick mit einem Blick nach vorn:
„Am Herzen liegt mir noch vieles. Das Bisherige ist für mich nur als Weg zu verstehen,
vor dem Anbeginn.“294
Resümierend
Anders als ihre männlichen Kollegen Kubin und Kokoschka legte Margret Bilger
wenig Wert auf ihre biographische Darstellung nach außen, vielmehr versuchte sie
sich einer solchen weitgehend zu entziehen. Die wenigen vorhandenen auto/bio-
graphischen Lebensreflexionen geben aber einen interessanten Einblick in Bilgers
Vorstellung von sich als Künstlerin. So lassen sich auch in ihren Identitätsnarrativen
durchaus Übereinstimmungen mit den „biographischen Formeln“ der Künstler-
biographie, wie sie von Kris/Kurz definiert wurden, finden. Besonders stark rekur-
rierte Bilger auf das Bild des sensiblen, verinnerlichten Künstlers, nicht zuletzt auch
auf das Bild des stets Suchenden. In ihrer Beschreibung des Entstehens des ersten
Holzrisses verwendete sie auch das Bild des Schöpferischen, das sich aus dem Inne-
ren kommend von selbst den Weg nach außen sucht. Auch ihre Feststellung, keine
künstlerischen Vorbilder zu haben, entspricht dem Bild künstlerischer Individuali-
292 Bilger, Lebensbericht, 28.
293 Bilger-Archiv, MB an Markus Kastl (?), Heidelberg 9.11.1936.
294 Bilger, Lebensbericht, 28.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463