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zurückgezogenen und verinnerlichten Künstler. Klien bediente hingegen das Bild
der exzentrischen Künstlerin, die sich im Widerstreit zur Vorstellung eines bürger-
lichen Lebenslauf als Frau Freiräume herauszunehmen versuchte, die teilweise kon-
form gingen mit dem Bild der „neuen Frau“ der 1920er-Jahre.
Sehr deutlich trat in der Analyse die Relevanz des Gegenwärtigen in der autobio-
graphischen Darstellung hervor. Der jeweilige Zeit- und Standort der Autobiogra-
phInnen zeigte sich als unbedingt zu berücksichtigender Faktor, insofern als er die
jeweilige Form der Selbstreflexion massiv beeinflusste. Im Fall der Autobiographie
von Alfred Kubin wurde daher erstmals eine genaue Übersicht über die einzelnen
Entstehungsetappen des Textes vorgenommen. Im Fall der Autobiographie von
Kokoschka führte der Blick auf den Entstehungskontext zu wichtigen Erkenntnis-
punkten: Einerseits erklärt der Hintergrund des Textes in seiner Mischform von Er-
zählung, Interview und Überarbeitungen die teils mangelnde Stringenz des autobio-
graphischen Blicks, andererseits zeigte sich im Fall der Kokoschka-Autobiographie
besonders deutlich, welche Tücken auto/biographisches Erinnern in Hinblick auf
eine von der Leserin/dem Leser erwartete Faktizität aufweisen kann. Wurde schon
bislang – nicht zuletzt von Kokoschka selbst – darauf hingewiesen, dass seine Erin-
nerungen nicht immer „faktengetreu“ sind, ist dazu noch Folgendes zu ergänzen:
Es ist auch den in der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung beschriebenen Pro-
zessabläufen des Erinnerns – und somit nicht nur Kokoschkas bewusstem „Jonglie-
ren“ mit Daten – zuzuschreiben, dass es durch wiederholtes Erzählen oder zusätz-
lich erfahrenes Wissen um Ereignisse zu stark überformten Erinnerungen kommt.
Autobiographische Erinnerungen sollten daher in Bezug auf Fakten keinesfalls als
„Steinbrüche“ für biographische Daten und Fakten benutzt werden, umso mehr
Aufschluss geben sie aber über die standort- und zeitabhängige Reflexion des Autors
über sich und sein Leben.
In Hinblick auf die eingangs reflektierte Frage, ob sich auto/biographische Dar-
stellungen von KünstlerInnen – im Sinne der Doppeldeutigkeit des Begriffs gráphein
(γράφειν) für schreiben und zeichnen – durch eine besondere „Bildsprache“ aus-
zeichnen, kann keine allgemeingültige Antwort gegeben werden. Die „klassischen“
Autobiographien von Kubin und Kokoschka sind jedenfalls in ein zeittypisches Au-
tobiographiemodell eingeschrieben, das formal keine Abweichungen aufweist. Dass
KünstlerInnen aber zweifellos spezielle Formen auto/biographischer Bespiegelung
offenstehen, zeigen nicht zuletzt Erika Giovanna Kliens „Klessheimer Sendboten“.
Ebenfalls kann resümiert werden, dass sich im Falle aller fünf ProtagonistInnen im
Blick auf ihre schriftlichen Zeugnisse eine auffällige literarische Begabung zeigte.
Obwohl nicht ursprüngliches Kriterium für die Auswahl kann man bei allen in die-
ser Studie auftretenden KünstlerInnen von Doppelbegabungen sprechen. Während
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463