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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 181
medizinisch-naturwissenschaftlichen Diskurs des ausgehenden 19. und beginnen-
den 20.
Jahrhunderts verbreitet und von großer Nachhaltigkeit waren.
Rezeptionsgeschichtlich relevant ist in diesem Zusammenhang das 1861 erschie-
nene Werk des Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen „Das Mutterrecht“, das
mit seiner Grundthese von der Existenz einer ursprünglich mutterrechtlichen Ge-
sellschaftsordnung in alten Kulturen oftmals emanzipatorisch oder frauenrechtlich
gedeutet wurde.6 Bachofens Buch, das sich auch in Künstlerkreisen großer Beliebt-
heit erfreute,7 affirmierte allerdings vielmehr die eingangs zitierte Geschlechterpo-
larität, nach der das weibliche Prinzip eine Art Urmutterschaft, basierend auf der
„stofflichen Natur der Frau“8, darstelle, und erst der Übergang zum Vaterrecht die
höhere Kulturstufe der Menschheitsgeschichte markiere. Aus der Zuordnung oder
Gleichsetzung von Frau(en) und Natur wurde in der Auslegung männlicher Intel-
lektueller und Wissenschafter des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Reduktion
auf deren körperlich-sexuelle Dimension. Am radikalsten definierte dabei der junge
Wiener Philosoph Otto Weininger Frauen als ausschließlich sexuell determinierte
Wesen. Weininger, der von einer bisexuellen Anlage des Menschen ausging, wonach
jeder Mensch Anteile des weiblichen Typs (W) und des männlichen Typs (M) in sich
trage,9 schrieb über den Zusammenhang von „W“ und Sexualität:
„Der Zustand der sexuellen Erregtheit bedeutet für die Frau nur die höchste Steigerung
ihres Gesamtdaseins. Dieses ist immer und durchaus sexuell. W geht im Geschlechtsle-
ben, in der Sphäre der Begattung und Fortpflanzung, d.i. im Verhältnisse zum Manne und
zum Kinde, vollständig auf, sie wird von diesen Dingen in ihrer Existenz vollkommen
ausgefüllt, während M nicht nur sexuell ist. […] Während also W von der Geschlechtlich-
keit gänzlich ausgefüllt und eingenommen ist, kennt M noch ein Dutzend anderer Dinge:
Kampf und Spiel, Geselligkeit und Gelage, Diskussion und Wissenschaft, Geschäft und
6 Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten
Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart 1861. Als kritische Analyse zu Bachofen
und seiner nicht unproblematischen Rezeptionsgeschichte vgl. u.a. Uwe Wesel, Der Mythos vom
Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften
vor der Entstehung staatlicher Herrschaft, Frankfurt am Main 1980.
7 In Alfred Kubins Bibliothek ist das Werk unter Inv.-Nr. 2776 zu finden, es ist auch Gegenstand
in seiner Korrespondenz mit Margret Bilger. Auch Oskar Kokoschka wurde von Bachofens Werk
beeinflusst. Dazu noch ausführlicher an späterer Stelle in diesem Kapitel.
8 Bachofen, Mutterrecht, 63.
9 Vgl. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, München 1980 [EA 1903]. Die These zur Bisexu-
alität beanspruchte Wilhelm Fließ für sich, Weininger wurde bereits zeitgenössisch die Autorschaft
abgesprochen. Vgl. dazu Jacques Le Rider, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus
und Antisemitismus, Wien, München 1985, 78–101.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463