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Diskurse186
dabei positioniert zwischen Kierkegaard und Strindberg.26 Nietzsche, Kierkegaard,
Schopenhauer, Weininger, nicht zuletzt auch Ludwig Klages: Kubins philosophische
Heroen, an denen er sich speziell in der Herausbildung seiner postadoleszenten Per-
sönlichkeit orientiert hatte, standen alle im Zentrum eines zeitgenössischen männ-
lichen Geniediskurses, der mit einer starken Misogynie verbunden war. Zweifellos
ist diese Prägung bei Kubin am stärksten in seiner Frühphase nachzuspüren. An-
dreas Geyer verwies auf die Veränderungen in Kubins philosophischem Weltbild
mit fortschreitendem Lebensalter, was sich auch in einem veränderten Zugang zu
Weininger zeigen lässt. So schrieb der Künstler im Jahr 1927 an seinen Freund und
Archivar Kurt Otte:
„Otto Weininger ist höchst interessant, aber mit Vorsicht anzufassen – er ist Gift.“27
Trotz dieser späteren Distanzierung lässt sich für die Jahre um und nach der Jahr-
hundertwende eine intensive Übereinstimmung von Weiningers und Kubins Ge-
dankenwelt konstatieren, die sich auch in der Rezeption der beiden widerspiegelt: So
wurde beispielsweise der 1988 herausgegebene Band zum Theaterstück „Weiningers
Nacht“ von Joshua Sobol in der Bearbeitung von Paulus Manker mit Zeichnungen
des jungen Kubin illustriert, deren sexuelle und aggressiv misogyne Inhalte Weinin-
gers innere Welt darstellen sollten.28 Umgekehrt trägt ein Abschnitt eines Ausstel-
lungskatalogs zu Kubins frühen Graphiken den nach Weininger benannten Titel
„Geschlecht und Charakter“.29
Neben dem bekannten „Geschlecht und Charakter“ skizzierte Weininger seine
Vorstellungen von Geschlechtertypologien auch in anderen, weniger bekannten
Texten. In einem nachgelassenen, erst in den 1980er-Jahren in der Wiener Akademie
der Wissenschaften entdeckten Manuskript mit dem Titel „Zur Theorie des Lebens“
skizzierte der junge Philosoph vier menschliche Typen (seiner Grundidee der zwei-
geschlechtlichen Anlage des Menschen folgend): „Der Ichmensch als Mann“, „Der
Ichmensch als Weib“, „Der Weltmensch als Mann“, „Der Weltmensch als Weib“.30 In
26 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Wernstein 8.2.1910, zit. nach Herzmanovsky-Orlando, Brief-
wechsel, 43.
27 AK an Kurt Otte, 23.11.1927, zit. nach Andreas Geyer, Träumer auf Lebenszeit. Alfred Kubin als
Literat, Wien, Köln, Weimar 1995, 168.
28 Paulus Manker (Hg.), Weiningers Nacht, Wien 1988.
29 Hans Albert Peters/Christoph Brockhaus (Hg.), Alfred Kubin. Das zeichnerische Frühwerk bis
1904, Baden-Baden 1977, dort Kapitel IV: ‚Geschlecht und Charakter‘ – Mythen des Weibes als
Zerstörerin, 141–190.
30 Vgl. Hannelore Rodlauer, Zur Entdeckung unbekannter Manuskripte aus Weininger Studienzeit,
in: Manker (Hg.), Weiningers Nacht, 191–193. Die oben zitierten Texte finden sich ebd., 195–198.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463