Page - 187 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 187 -
Text of the Page - 187 -
3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 187
den beiden weiblichen Ausführungen „Der Ichmensch als Weib“ und „Der Welt-
mensch als Weib“ findet sich die bekannte Dichotomie von „Mutter“ und „Hure“:
„Der Ichmensch als Weib: schamhaft, sehr mütterlich mit stark überhängendem Bauch
schon in der Kindheit, sehr monogam, sittsam, nicht gefallsüchtig, wenig sinnlich, mit
wenig Vergnügen am Coitus, im Grenzfall sogar sexuell anaesthetisch, sehr arbeitsam,
nicht kokett, nicht geil, kocht und näht gut und gerne […]
Der Weltmensch als Weib: das ist die Prostituierte. Relativ seltener als die Mutter, […]
Schamlos, hysterisch (leicht hypnotisierbar), herrisch, lacht viel; erotisch durch und durch
veranlagt; geil; mit flachem Bauch; hat keine Kinder; liebt sie auch nicht.“31
Die Typisierung von Frauen in idealisierte, quasi heilige „Mütter“ und sexuell be-
gehrte, aber moralisch verachtete „Huren“, die gleichzeitige Überhöhung und Ver-
achtung von Frauen, zeigt sich als charakteristischer Kern des Geschlechterdiskurses
der Jahrhundertwende. Lisa Fischer verwies auf eine Gemeinsamkeit in dieser nur
scheinbaren Polarität von Frauenfeindlichkeit und Frauenvergötterung, nämlich die
Verleugnung der „realen Frau.“32 In der vermeintlichen Erhöhung wird die Frau als
Individuum genauso wenig wahrgenommen wie in der offensichtlichen Diffamie-
rung. Bei Weininger drückte sich das so aus, dass er Frauen generell keine Individu-
alität, keinen Geist, keine eigenständige Existenz zugestand, Frauen schöpften ihren
„Wert“ aus dem anderen, aus dem Mann. So argumentierte Weininger – und ich
zitiere hier bewusst nicht aus „Geschlecht und Charakter“, sondern aus dem auch
von Kubin nachweislich rezipierten Band „Über die letzten Dinge“:
„Der Wille zum Wert ist es, der den Menschen, Mann und Weib, als solchen konstituiert.
Kann ein Mensch – dies ist immer der Fall der Frauen – sich nicht von selbst aus und vor
sich selbst Wert geben, so sucht er ihn von einem anderen, vor einem anderen zu erhalten.
[…] Gewiß hat nur der Mann, nicht die Frau ein Innenleben [dazu Fußnote: Das Innenle-
ben der Frauen dauert immer höchstens neun Monate], und auch der Mann umso mehr,
je höher er steht.“33
31 Otto Weininger, Der Ichmensch als Weib und Der Weltmensch als Weib, in: Manker (Hg.), Weinin-
gers Nacht, 196 u. 198.
32 Lisa Fischer, Über die erschreckende Modernität der Antimoderne der Wiener Moderne oder über
den Kult der toten Dinge, in: Lisa Fischer/Emil Brix (Hg.), Die Frauen der Wiener Moderne, Wien
1997, 208–217, 209.
33 Otto Weininger, Über Henrik Ibsen und seine Dichtung „Peer Gynt“, in: Weininger, Über die letz-
ten Dinge, 1–47.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463