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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse198
an Blättern arbeite, „in denen ich meine Gedanken über ‚das Weib‘ niederlege. – Gut
kommt dabei das zarte Geschlecht nicht weg.“70
Seine „Gedanken über das Weib“ legte Kubin auch schriftlich nieder. Besonders
interessant diesbezüglich ist ein autobiographisches Fragment, das Andreas Geyer
im Skizzenbuch Kubins aus dem Jahr 1902 finden konnte, von Geyer mit dem Titel
„Weiberfragment“ betitelt.71 In diesem Text dominieren die Topoi weiblicher Un-
treue und Eifersucht, ebenfalls beherrschende Themen des Geschlechterdiskurses
der Jahrhundertwende.72 Während von den Proponenten jenes Diskurses männli-
che Promiskuität nicht zuletzt mit Stolz verkündet, jedenfalls kaum versteckt wurde,
wurde von Frauen absolute Treue, bis hinein in die Gedanken, gefordert und die
angeblich naturgegebene Untreue und Promiskuität „des Weibes“, an der der Mann
zerbreche (psychisch wie physisch), beklagt. So auch in Kubins „Weiberfragment“,
in dem es heißt:
„Wenn ein Weib seine Liebe verspricht, durch dieses Versprechen die rührende ganze
Liebe eines Mannes sich erringt und ihn hintnach dennoch betrügt in irgendeiner Form,
durch seine ungetreuen Gedanken oder einer That das bliebe sich am Ende ganz gleich.
Was könnte man mit einer solchen eckelhaften Kröte dann machen?? Man soll ihr den
verfluchten gleißenden Balg abziehen, ihn mit Gas füllen und diesen Ballon in thurmhöhe
über dem Boden schweben lassen. Nachts könnte man ihn dann vielleicht transparent,
leuchtend machen. Und die Hengste würden froh sein über dies Wahrzeichen, und die
Stuten würden zittern und schwitzen. – Nein falsch das soll man ja nicht thun. – Einzig
und allein das Richtige ist – Stille o Mann nur ruhig weiter deine Brunst. – Verdammt seid
ihr beide. Und sie ist ein Thir mit nässender Spalte, du aber mein kräftiger Knabe bist ein
70 AK an Frau Dr. Immerwahr, München 10.5.1902 (Original in der Bayer. Staatsbibliothek), zit. nach
Peters/Brockhaus (Hg.), Alfred Kubin, 16.
71 Alfred Kubin, „Weiberfragment“ [1901/2], Fragment aus einem Skizzenbuch um 1902, Transkript
des Textes in: Geyer, Träumer auf Lebenszeit, 241.
72 Zur weiblichen Untreue vgl. wiederum Weininger, in dessen Geschlechtertypologie ein morali-
scher Wert wie Treue naturgemäß nur ein männlicher sein kann, daher auch: „In der Tat muß ich
die allgemeine Ansicht, welche ich lange geteilt habe, völlig verfehlt nennen, die Ansicht, daß das
Weib monogam und der Mann polygam sei. Das Umgekehrte ist der Fall. […] Man wird zwar oft
das Weib treuer nennen hören als den Mann; die Treue des Mannes ist nämlich für ihn ein Zwang,
den er sich, allerdings im freien Willen und mit vollem Selbstbewußtsein, auferlegt hat. Er wird an
diese Selbstbindung oft sich nicht kehren, aber dies stets als sein Unrecht betrachten oder irgend-
wie fühlen. Wenn er die Ehe bricht, so hat er sein intelligibles Wesen nicht zum Worte kommen
lassen. Für die Frau ist der Ehebruch ein kitzelndes Spiel, in welchem der Gedanke der Sittlichkeit
gar nicht, sondern nur die Motive der Sicherheit und des Rufes mitsprechen. Es gibt kein Weib,
das in Gedanken ihrem Manne nie untreu geworden wäre.“ Weininger, Geschlecht und Charakter,
288 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463