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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 209
ins rote Fleisch!“100 Die Frau stürzt darauf schmerzschreiend auf den Mann und ver-
setzt ihm mit einem Dolch eine tiefe Wunde. Der Verletzte wird von den Frauen, die
in der Zwischenzeit begonnen haben, sich mit dem Gefolge des Mannes „paarend“
auf dem Boden zu wälzen, in einen Käfig gesperrt. Er scheint besiegt. Die Frau aber
zieht es zu dem von ihr Besiegten:
„Sie schleicht wie ein Panther im Kreis um den Käfig. Sie kriecht neugierig zum Turm,
greift lüstern nach dem Gitter, schreibt ein großes weißes Kreuz an den Turm, schreit auf.
Frau: ‚Macht das Tor auf, ich muss zu ihm!‘“101
Während der verletzte Mann im Käfig wieder zu Kräften zu kommen scheint, ver-
fällt die Frau zusehends. Noch einmal verflucht sie ihn:
„Frau: ‚Ich will dich nicht leben lassen, Du Vampyr, frißt an meinem Blut, Du schwächst
mich, wehe Dir, ich töte Dich – Du fesselst mich – Dich fing ich ein – und Du hältst mich
— laß los von mir, Blutender, Deine Liebe umklammert mich — wie mit eisernen Ketten
— erdrosselt — los — Hilfe. Ich verlor den Schlüssel, der Dich festhielt.‘“102
Der Mann „reißt das Tor auf“, verlässt den Käfig, er braucht die Frau nur mehr mit
dem Finger zu berühren und sie stirbt. Der Mann erschlägt alle, die sich ihm in den
Weg stellen „wie Mücken“ und „geht rot fort“.103 Die Stärke des Mannes setzt sich
durch, die tödliche Rache der Frau scheitert, und zwar an ihrer eigenen vermeintli-
chen Schwäche: ihrer sexuellen Begierde, die sie den Mann im Käfig befreien ließ.
Am Schluss ist sie tot, bezwungen vom Mann.
Ähnlich wie bei den autobiographischen Ausführungen zum Plakat des Stücks,
verwies Kokoschka auch das Drama selbst betreffend auf den persönlichen Hinter-
grund des Geschlechterkampfs. Am deutlichsten formuliert ist dies in der ersten
Fassung von „Mein Leben“:
„Die Geschlechtsliebe veränderte total mein Verhalten zur Welt, zur Gesellschaft. Diese
Spannung – in einer aufregenden und unsicher erscheinenden Umwelt – verursachte, daß
100 Ich zitiere hier und im Folgenden aus der frühesten vorliegenden schriftlichen Fassung des Dra-
mas: Oskar Kokoschka, Mörder, Hoffnung der Frauen, in: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und
die Künste, 1910, Heft 20, 155–156. In dieser Fassung auch publiziert in: Heinz Spielmann (Hg.),
Oskar Kokoschka. Das schriftliche Werk. Bd. 1. Dichtungen und Dramen, Hamburg 1973, 33–41.
101 Kokoschka, Mörder, Hoffnung der Frauen, 156.
102 Kokoschka, Mörder, Hoffnung der Frauen, 156.
103 Kokoschka, Mörder, Hoffnung der Frauen, 156.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463