Page - 235 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 235 -
Text of the Page - 235 -
3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 235
Phänomenen von Geschwindigkeit und Urbanität findet. Das Thema der Stadt mit
den dazugehörigen Symbolen von Wolkenkratzer bis U-Bahn durchzieht das Werk
der Künstlerin von ihrer Wiener Zeit bis in die New Yorker Lebens- und Werkphase.
Eine Auseinandersetzung damit findet sich auch in den autobiographischen Doku-
menten der Künstlerin, vor allem in den Briefen, die sie ihrer Familie aus New York
schrieb. Weniger Faszination, dafür umso größere Distanz und Ablehnung lässt sich
in diesem Zusammenhang bei Alfred Kubin konstatieren. Der Künstler, der sich
klar als Fortschrittsskeptiker verstand, äußerte seine modernitätskritische Haltung
in vielen seiner autobiographischen Texte, eine besondere Auseinandersetzung mit
der Thematik findet sich in seinem – mit starken autobiographischen Zügen ver-
sehenen – Roman „Die andere Seite“, in dem der Kampf zwischen Tradition und
Moderne in den Hauptfiguren quasi personalisiert auftritt.
Nicht nur im Werk, auch in der Wahl ihres Lebens- und Arbeitsorts spiegelt sich
der zeitgenössische Großstadtdiskurs in den Biographien bildender KünstlerInnen
wider. Denn obwohl die Moderne – im Sinne Peter Gays – als städtische Erschei-
nung zu verstehen ist, entstand parallel, teils in Übereinstimmung mit zeitgenössi-
schen Lebensreformideen, eine Gegenbewegung, die den Rückzug in das Ländliche
forcierte. Klaus von Beyme ortet in seiner Analyse zum Zeitalter der Avantgarden
nur „eine Minderheit“, die den „Mythos der Zurückgezogenheit in ländlicher Idylle“
pflegte.177 Im Blick auf die Situation in Österreich entsteht ein anderer Eindruck:
Vor allem in den 1920er- und 1930er-Jahren gingen zentrale Strömungen der öster-
reichischen Kunst nicht von den Städten, sondern von der Peripherie aus, das heißt
von KünstlerInnen und Künstlergruppen, die am Land lebten.178 Der Rückzug aufs
Land ist auch in Zusammenhang zu sehen mit zeitgenössischen Thesen, die in der
gesteigerten Geschwindigkeit die Hauptursache für die steigende nervöse Unruhe
vieler Menschen sahen. Der Diskurs vom „nervösen Zeitalter“ und der Neurasthe-
nie als „Zeitkrankheit“ lässt sich in zahlreichen Künstlerbiographien nachweisen.
Die unterschiedlichen Positionierungen im Diskurs um Geschwindigkeit, Fort-
schritt, Technik und Großstadtkritik werden im Folgenden wieder einzelbiogra-
phisch einer näheren Betrachtung unterzogen.
177 Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München
2005, 87.
178 Vgl. Klaus-Albrecht Schröder, Malerei in Österreich zwischen den Kriegen, in: Kunst- und Aus-
stellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Kunst aus Österreich 1896–1996, München,
New York 1996, 34–41, 34.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463