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Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 243 Alle hier genannten Schlagworte finden sich im zeitgenössischen politischen Dis- kurs des frühen 20.  Jahrhunderts, weder Kubin noch der Rezensent Schmitz standen diesen positiv gegenüber. „Grell und dumm“ seien die „substanzlosen Schlagwörter unserer Zeit“, die an dieser Stelle des Romans durch die sonst so geheimnisvolle Welt des Traumreichs tönen, so Schmitz in seinem Kommentar, und dass Kubin der gleichen Ansicht sei, davon ging Schmitz aus, denn lautes politisches Gebaren sei die Sache des Künstlers nicht.201 Der Kampf zwischen Patera und Bell, zwischen Antimoderne und Moderne, wird also auch auf politischer Ebene geführt, zwischen Autokratie und Demokratie, zwi- schen einem alten monarchischen System und Amerika. Im Untergangsszenario verschmelzen die beiden kurzfristig zu einer Figur, aber letztendlich stirbt Patera und Bell überlebt. Dieses Szenario wurde oftmals als prophetisch in Bezug auf den bevorstehenden Ersten Weltkrieg und die in ihm begründete neue Weltordnung, in der Amerika Europas Vormachtstellung ablöste, interpretiert.202 Aber auch am Ende des Romans findet sich keine einfache Sieger-Gewinner-Dialektik zwischen Moderne und Antimoderne. Patera ist zwar tot und Bell lebt, der Ausgang erscheint dennoch offen. Oscar A.  H. Schmitz ist einer der wenigen Rezensenten, die darauf hinweisen, dass es in diesem Kampf zwischen zwei Mächten eine dritte Macht als Gewinner gibt, die in dem Roman eine zentrale und meiner Ansicht nach bislang viel zu wenig beachtete Rolle einnimmt: das Volk der Blauäugigen. Dabei handelt es sich gewissermaßen um das Ur-Volk, das im Gebiet des Traumreichs beheimatet ist. Sie sind neben den wenigen individuell Überlebenden des Untergangsszenarios des Traumreichs diejenigen, die unbeschadet übrigbleiben. Aus der verwendeten Diktion lässt sich, wie ich meine, ein intertextueller Bezug zu den Schriften von Jörg Lanz von Liebenfels herstellen. Kubin war zu jenem Zeitpunkt überzeugter An- hänger und Leser der Schriften des rechtsesoterisch-rassistischen Begründers des „Neutemplerordens“ Lanz von Liebenfels.203 In dessen Buch „Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen“204 finden sich Pseudotheorien, die frappierend mit der Darstellung von Kubins „Blauäugigen“ aus der „Anderen Seite“ korrelieren. In der „Theozoologie“ wird die Geschichte des Abstiegs der Menschheit zu „Sodom- säfflingen“ beschrieben, die durch (weibliche) Promiskuität und Vermischung der Rassen entstanden und nur durch selektives „Hinaufzüchten“ wieder rückgängig zu machen sei. Auch Kubins „Blauäugige“ erscheinen als ein „Urvolk“, das der Rassen- 201 Schmitz, Brevier für Einsame, 70  f. 202 Dies v.a. bei Schmitz, Brevier für Einsame, 137: „Hier erinnere man sich, daß das symbolisch- seherische Buch mehrere Jahre vor dem Weltkrieg erschienen ist.“ 203 Vgl. dazu ausführlicher im Kapitel 3.3.1. 204 Lanz-Liebenfels, Theozoologie. Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
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Zeitwesen Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Title
Zeitwesen
Subtitle
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Author
Birgit Kirchmayr
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2020
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-23310-7
Size
17.3 x 24.5 cm
Pages
468
Category
Kunst und Kultur

Table of contents

  1. Einleitung 11
  2. Fragestellung und Ausgangsthesen 11
  3. Theoretische Bezugsrahmen 14
  4. Quellen 17
  5. „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
  6. 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
    1. 1.1 Auto/Biographieforschung 33
      1. 1.1.1 Lebenslauf, Biographie, Autobiographie oder Auto/Biographie? 34
      2. 1.1.2 Auto/Biographie und Geschichtswissenschaft 39
      3. 1.1.3 Auto/Biographie und Geschlecht 47
    2. 1.2 Künstlerauto/biographie 51
      1. 1.2.1 Von Vasaris Viten bis „Inventing Leonardo“: Zur Geschichte der Künstlerbiographik 51
      2. 1.2.2 „Biographische Formeln“: Die „Legende vom Künstler“ 54
      3. 1.2.3 Geniekonzept und Autobiographical Life 59
    3. 1.3 Auto/Biographische Quellen 63
      1. 1.3.1 Autobiographie 65
      2. 1.3.2 Brief 66
      3. 1.3.3 Tagebuch 72
  7. 2 KünstlerInnen über sich 79
    1. 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
      1. 2.1.1 Der Künstler, sein Archivar und sein Nachlass 80
      2. 2.1.2 Die Autobiographie „Aus meinem Leben“ (1911–1952) 83
    2. 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
      1. 2.2.1 Der Künstler als Erzähler 105
      2. 2.2.2 Die Autobiographie „Mein Leben“ (1971) 109
    3. 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
      1. 2.3.1 Autobiographisches in Tagebüchern und Briefen 136
      2. 2.3.2 „Biographische Notizen“ (1929) 138
    4. 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
      1. 2.4.1 Erklärungen zu einem Negativbefund 150
      2. 2.4.2 Die „Klessheimer Sendboten“ (1927) 154
    5. 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
      1. 2.5.1 Versuch einer Verweigerung 164
      2. 2.5.2 Der „Lebensbericht“ (1968) 166
    6. 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
  8. 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
    1. 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
      1. 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
      2. 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
      3. 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
      4. 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
    2. 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
      1. 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
      2. 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
      3. 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
      4. 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
    3. 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
      1. 3.3.1 Alfred Kubin: Von der Ariosophie zum Buddhismus 277
      2. 3.3.2 Aloys Wach, die Kabbala und Jesus Christus als „Okkultist“ . . . . . . . 284 Exkurs: Die „Affäre Schappeller“ 291
    4. 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
  9. 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
    1. 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
    2. 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
      1. 4.2.1 Kubin, der Krieg und das Ende der „alten Ruhe“ 321
      2. 4.2.2 „Ich bin so froh, dass ich noch lebe“: Oskar Kokoschka und der Erste Weltkrieg 328
    3. 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
      1. 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
      2. 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
      3. 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
      4. 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
    4. 4.4 Nationalsozialismus 382
      1. 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
      2. 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
      3. 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
      4. 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
    5. 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
  10. Dank 426
  11. Abkürzungsverzeichnis 428
  12. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
  13. Quellen- und Literaturverzeichnis 431
  14. Archive und Sammlungen 431
  15. Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
  16. Literatur und gedruckte Quellen 432
  17. Personenregister 463
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