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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 243
Alle hier genannten Schlagworte finden sich im zeitgenössischen politischen Dis-
kurs des frühen 20.
Jahrhunderts, weder Kubin noch der Rezensent Schmitz standen
diesen positiv gegenüber. „Grell und dumm“ seien die „substanzlosen Schlagwörter
unserer Zeit“, die an dieser Stelle des Romans durch die sonst so geheimnisvolle
Welt des Traumreichs tönen, so Schmitz in seinem Kommentar, und dass Kubin der
gleichen Ansicht sei, davon ging Schmitz aus, denn lautes politisches Gebaren sei die
Sache des Künstlers nicht.201
Der Kampf zwischen Patera und Bell, zwischen Antimoderne und Moderne, wird
also auch auf politischer Ebene geführt, zwischen Autokratie und Demokratie, zwi-
schen einem alten monarchischen System und Amerika. Im Untergangsszenario
verschmelzen die beiden kurzfristig zu einer Figur, aber letztendlich stirbt Patera
und Bell überlebt. Dieses Szenario wurde oftmals als prophetisch in Bezug auf den
bevorstehenden Ersten Weltkrieg und die in ihm begründete neue Weltordnung,
in der Amerika Europas Vormachtstellung ablöste, interpretiert.202 Aber auch am
Ende des Romans findet sich keine einfache Sieger-Gewinner-Dialektik zwischen
Moderne und Antimoderne. Patera ist zwar tot und Bell lebt, der Ausgang erscheint
dennoch offen. Oscar A. H. Schmitz ist einer der wenigen Rezensenten, die darauf
hinweisen, dass es in diesem Kampf zwischen zwei Mächten eine dritte Macht als
Gewinner gibt, die in dem Roman eine zentrale und meiner Ansicht nach bislang
viel zu wenig beachtete Rolle einnimmt: das Volk der Blauäugigen. Dabei handelt
es sich gewissermaßen um das Ur-Volk, das im Gebiet des Traumreichs beheimatet
ist. Sie sind neben den wenigen individuell Überlebenden des Untergangsszenarios
des Traumreichs diejenigen, die unbeschadet übrigbleiben. Aus der verwendeten
Diktion lässt sich, wie ich meine, ein intertextueller Bezug zu den Schriften von
Jörg Lanz von Liebenfels herstellen. Kubin war zu jenem Zeitpunkt überzeugter An-
hänger und Leser der Schriften des rechtsesoterisch-rassistischen Begründers des
„Neutemplerordens“ Lanz von Liebenfels.203 In dessen Buch „Theozoologie oder die
Kunde von den Sodoms-Äfflingen“204 finden sich Pseudotheorien, die frappierend
mit der Darstellung von Kubins „Blauäugigen“ aus der „Anderen Seite“ korrelieren.
In der „Theozoologie“ wird die Geschichte des Abstiegs der Menschheit zu „Sodom-
säfflingen“ beschrieben, die durch (weibliche) Promiskuität und Vermischung der
Rassen entstanden und nur durch selektives „Hinaufzüchten“ wieder rückgängig zu
machen sei. Auch Kubins „Blauäugige“ erscheinen als ein „Urvolk“, das der Rassen-
201 Schmitz, Brevier für Einsame, 70 f.
202 Dies v.a. bei Schmitz, Brevier für Einsame, 137: „Hier erinnere man sich, daß das symbolisch-
seherische Buch mehrere Jahre vor dem Weltkrieg erschienen ist.“
203 Vgl. dazu ausführlicher im Kapitel 3.3.1.
204 Lanz-Liebenfels, Theozoologie.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463