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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse244
vermischung entkommen ist und die dadurch als „Auserwählte“ dem Untergang
standhalten können:
„Dieser kleine Volksstamm – er zählte nur etwa hundert Mitglieder – zeichnete sich auch
durch eine bedeutend hellere Hautfarbe aus. Eingesprengt zwischen eine rein mongolische
Bevölkerung – die Ausläufer der großen Kirgisenhorde – lebte er gänzlich abgeschlossen
und vermischte sich auch nicht mit den Nachbarvölkern.“205
Im Verweis auf die helle Hautfarbe und die „Blauäugigkeit“ findet sich auch ein Be-
zug zum ebenfalls von Lanz von Liebenfels heroisierten Ariertum, wofür sich in
der „Anderen Seite“ noch ein weiterer Bezugspunkt herstellen lässt, insofern als der
für das Traumreich gewählte Ort im zentralasiatischen Bereich (der als Herkunfts-
raum der Arier gilt) als „Wiege der Menschheit“ bezeichnet wird.206 Umgelegt auf
die Überlegungen zu Fortschrittsdiskurs und Kampf zwischen Antimoderne und
Moderne kann der „Anderen Seite“ vor diesem Hintergrund eine weitere Interpreta-
tionsebene hinzugefügt werden: Weder Bell noch Patera, weder das moderne Ame-
rika noch das antimoderne Habsburg sind in Kubins Szenario die Überlebenden,
sondern in der Tradition Liebenfels’scher Ariosophie die „reinrassigen“ und damit
zweifellos ebenfalls antimodernen Blauäugigen.
Zusammenfassend kann resümiert werden: Perle als „Versuchsstation der Fort-
schrittsverweigerung“ funktioniert auf mehreren Ebenen: 1. als Ort, aus dem mo-
derne Technologie ausgesperrt wird – dazu nimmt der Ich-Erzähler eine gespaltene
Haltung ein, manch Neuerung wird durchaus als bereichernde Bequemlichkeit be-
trachtet, das Festhalten am „Vormodernen“ erfordert von den TraumstädterInnen
nicht immer zum Vorteil des Einzelnen gereichende Zugeständnisse. 2. als Ort,
an dem sich vormoderne mit modernen politischen Systemen messen, personali-
siert im Konflikt des Herrschers Patera mit dem Amerikaner Herkules Bell. Der
Ich-Erzähler gibt sich hier als unparteiischer Beobachter, der mit beiden Figuren
hadert und vor allem sein individuelles Überleben reflektiert. Nur sehr nebensäch-
lich erzählt er uns aber auch vom Überleben der „Blauäugigen“, was durchaus als
Botschaft gelesen werden kann, dass nur „Rassereine“ einem wodurch auch immer
ausgelösten Untergangsszenario standhalten können. Die Fortschrittsfeindlichkeit
der „Anderen Seite“ erhält damit auch eine politische Dimension.
205 Kubin, Die andere Seite, 20.
206 Kubin, Die andere Seite, 39.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463