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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 247
Noch größere Städte als Wien und die ihnen innewohnende Dynamik mussten
auf die Kinetistin Klien zweifellos eine Anziehungskraft ausüben. Die internatio-
nale Vernetzung und Bekanntheit von Franz Čižek eröffnete auch Klien den Weg
in die Welt. 1926 war die Čižek-Schülerin als einzige österreichische Künstlerin bei
der „International Exhibition of Modern Art“ in New York vertreten. Die von der
Kunstvereinigung „Société Anonyme“ unter Leitung von Katherine Dreier veran-
staltete Ausstellung im New Yorker Brooklyn Museum brachte die europäische Mo-
derne, darunter Künstler wie Wassily Kandinsky, Piet Mondrian oder Paul Klee, in
die amerikanische Öffentlichkeit.214 Erika Giovanna Klien war in der Ausstellung
mit vier Arbeiten vertreten.215 Der erste Schritt nach Amerika, nach New York war
damit getan. 1929 verließ Klien Europa, um in New York als Künstlerin Fuß zu fas-
sen. Im Herbst 1929, als mit dem Börsenkrach die „Big Depression“ ihren Anfang
nahm, kam sie in der amerikanischen Metropole an.
Über ihre Auseinandersetzung mit der Stadt und den damit zusammenhängen-
den Topoi von Geschwindigkeit, Technik und Urbanität erfahren wir – zusätzlich
zum Werk – auch vieles aus den autobiographischen Aufzeichnungen, im konkre-
ten aus den erhaltenen Briefen, die die Künstlerin an ihre Mutter Anna und ihren
Bruder Gunther nach Wien schrieb. Besonders in den frühen Briefen dominieren
Beschreibungen der Metropole New York. Als Kinetistin und technikaffine Künstle-
rin verfügte Klien über eine besonders geschärfte Wahrnehmung für technologische
Neuheiten und urban erscheinende Merkmale ihrer Umwelt. Ihre Mitteilungen sind
dabei teils auch dem erwartbaren Interesse des Bruders geschuldet, der als Ingeni-
eur das technische Interesse seiner Schwester teilte. Besonders die ersten Briefe sind
dominiert von der Begeisterung, auch für kleine technische Innovationen im Alltag
wie elektrische Kaffeemaschinen oder generell die Ausstattung der modernen ame-
rikanischen Küche. Im ersten (erhaltenen) Brief an die Mutter vom 11. November
1929 heißt es:
214 Vgl. Jennifer
R. Gross (Hg.), The Société Anonyme. Modernism for America, New Haven, London
2006.
215 Im Ausstellungskatalog von 1926 sind folgende Arbeiten angeführt: „1. Abstraction, 2. Bewegung,
3. The Dancer, 4. The Train“. Vgl. Katherine S. Dreier, International Exhibition of Modern Art
assembled by Société Anonyme. Brooklyn Museum November 19th 1926 to January 1st 1927, New
York 1926, o.
S. [5]; Vgl. auch Gross (Hg), Société Anonyme, 177 u. 197. Dort werden Kliens Blätter
mit folgenden Titeln bezeichnet: „Factory (geometrical abstraction)“, „Abstraction“, „Rhythm of
Movement“, „The Train“. Bei „The Train“ handelt es sich um eine aquarellierte Zeichnung mit den
Maßen 17,8 cm x 29,8 cm, also nicht um das Gemälde mit gleichem Sujet und Titel. Die 1926 in
der Ausstellung vertretenen vier Blätter befinden sich heute als Schenkung Katherine Dreiers in der
Galerie der Yale University, vgl. http://artgallery.yale.edu (2.9.2019)
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463