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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse250
Kliens Schwester Bertha schien weniger begeistert von diesem Ausflug gewesen zu
sein, sie fügte im selben Brief folgenden Absatz an den Bruder hinzu:
„Liebes Guntherlein – meine Zähne klappern noch, wenn ich an die Excursion denke
zu der mich Erika heute verführt hat – weiss jetzt erst die Sicherheit und Gemütlichkeit
meines Zimmers zu schätzen.“219
Wie die Künstlerin im obigen Brief angekündigt hatte, verarbeitete sie Motive wie
die unterirdischen Autobahnen von Chicago auch in ihrem Werk. Das dichte Netz
an Autostraßen, Tunnels, U-Bahnen und die ständige Bewegung waren beständige
Motive in ihren Werken, die gleichzeitig ihren Alltag bestimmten. So beschrieb Klien
mit ähnlichen Wortbildern wie im Brief aus Chicago ihrer Mutter kurz darauf eine
Fahrt von New York nach New Jersey. Sie sollte in Montclair, einer Kleinstadt in New
Jersey unweit von New York, Privatstunden als Zeichenlehrerin übernehmen. Die
Fahrt dorthin führte durch den erst kurz zuvor, im Jahr 1927, eröffneten Holland
Tunnel, der unter den Hudson-River führend New York mit New Jersey verbindet.
Mit 2600 Meter Länge war der Holland Tunnel damals der längste Unterwassertun-
nel der Welt und galt vor allem aufgrund seines Entlüftungssystems als technische
Innovation.220 In Kliens Beschreibung der Fahrt durch den Tunnel dominierte die
Faszination, es finden sich aber auch Vokabel von Gefahr und Unheimlichkeit:
„vorgestern – Samstag habe ich mit meinen Stunden in Monclaer begonnen – das ist eine
kleine Stadt auf der anderen Seite des Hudsonriver – nahe Hoboken und New Jersey – die
Dame – die das ganze arrangierte – schrieb mir einen Brief mit den Direktionen – wie ich
nach Montclaer hinauskomme: 10. Straße – 7. Avenue – Ecke – stopp Autobus market
Monclaer at 1h 10 – ride 1 hour – stopp Autobus an Ecke Monclaer – Ecke Bloomfield
Avenue – Grovestreet‘ – allright – ich nahm den Brief und begab mich mit sehr gemisch-
ten Gefühlen auf meine Reise – stand 15 Minuten an der Ecke 10. Straße 7. Avenue – un-
gläubig – ob ich jemals nach Monclaer hinauskommen würde – unzählige Autobusse – die
so schnell fahren – daß man den Namen kaum lesen kann endlich Monclaer – ich stoppte
Buss – dann gings in rasender Fahrt durch das Hafenviertel – plötzlich steil bergab unter
die Erde durch das berühmte ‚Holland Tunnel‘unter dem Hudson-Fluß durch – es geht
auch eine Subway unter dem Hudson – sie ist aber gefährlich – Karlinsky221 sah einmal
219 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Gunther Klien, New York 29.12.1929, Ergänzung durch Bertha Klien.
220 Vgl. Rebecca Read Shanor, Holland Tunnel, in: Kenneth
T. Jackson (Hg.), The Encyclopedia of New
York City, New Haven, London 1995, 550.
221 Elisabeth Karlinsky (1904–1994), Studienkollegin von Klien an der Kunstgewerbeschule, war
ebenfalls von 1928 bis 1930 als Kunstlehrerin in New York. Karlinsky kehrte 1930 nach Europa
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463