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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 253
keit und Naturlandschaft der Insel wurde ihr die Großstadtmüdigkeit besonders
bewusst:
„alles Heimweh – das in New-York zumeist durch die viele Arbeit und das ewige ‚Hurry
up‘ unterdrückt war – das habe ich jetzt – und ich sehe auch erst jetzt – wie müde und
nervös mich New-York gemacht hat – […] – diesen Contrast von Lärm und Ruhe konnten
meine Nerven anfangs nicht vertragen – da sie noch ganz auf New-Yorker Leben einge-
stellt waren – ich bin z.B. am Strand gelegen – halbschlafend – eine Möve schrie – und ich
flüsterte unbewußt vor mich hin – was sie schrie und sie schrie ununterbrochen ‚B.M.T.‘
(spr. ‚Bi.M.Ti‘) das ist der Name einer Subway in N.Y. – Brooklyn-Manhattan-Subway226 –
und einmal stolperte ich am Brettersteg zum Strand – es war niemand da – aber ich hörte
deutlich sagen ‚watch your stepp‘ d.h. ‚gib Acht‘– (wörtlich übersetzt: ‚beobachte deinen
Schritt‘ jeder Wachmann oder Schaffner sagt das 1000 x am Tag – es ist an allen Zügen-
Subways und Autobussen geschrieben – und als ich stolperte (was hier nichts – in New-
Yorker Straßen oft den Tod bedeutet) bin ich so furchtbar erschrocken – denn plötzlich
fühlte ich – ich bin auf einer Avenue und hunderte Autos kommen auf mich zu – es war
wie eine ‚Fata Morgana‘ und auf der einsamen Moorstraße ging ich immer rechts-links-
vorn rückwärts schielend – obwohl nur Blumen und Sträucher da waren – und ich fand
es so lächerlich – sobald es mir zum Bewußtsein kam – New-York klingt noch in meinen
Ohren – obwohl nur Lerchen singen – Möven schreien und die Brandung donnert“227
Frederic Howe hatte in Siasconset auf der nahe New York gelegenen Insel Nantucket
eine Sommerkolonie für Intellektuelle, Politiker und Kunstschaffende gegründet.228
Er gehörte zu Kliens Privatschülern in New York und hatte die Künstlerin einge-
laden, auf die Insel zu kommen und im Sommer dort Zeichenkurse zu geben. Mit
viel Energie entwarf Klien eigene Reklamezettel (Abb. 20), die sie auf der Insel ver-
teilte („mein erstes eigenes Unternehmen in Amerika“),229 und genoss die Natur, das
Meer, die Landschaft. Neben ihrer Tätigkeit in den Zeichenkursen fertigte sie für
226 Die Brooklyn–Manhattan Transit Corporation (BMT) war eine von zwei privaten U-Bahn-Ge-
sellschaften in New York. Nach dem wirtschaftlichen Niedergang im Zuge der Großen Depression
wurden die Linien der BMT 1940 Teil des städtischen Transportsystems. Vgl. Clifton Hood, Brook-
lyn–Manhattan Transit Corporation, in: Jackson (Hg.), Encyclopedia of New York City, 158
f.
227 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, Siasconset 16.7.1930.
228 Vgl. Frederic C. Howe, The Confessions of a Reformer, New York 1967; Lee Rand Burne, The Scon-
set School of Opinion, in: Historic Nantucket, Vol. 41, No.2 (Summer 1993), 27–29, online unter
https://issuu.com/nantuckethistoricalassociation/docs/hn_summer1993 (2.9.2019).
229 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, Siasconset o. D. [Juli/August 1930].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463